Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer:Meister des Rechts und des Wortes

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Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer im Jahr 2005

(Foto: Getty Images)

Winfried Hassemer ist tot - der Strafrechtsgelehrte, Rechtsphilosoph und frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Er war ein freiheitlicher Geist und einer der klügsten und redemächtigsten deutschen Juristen.

Ein Nachruf von Heribert Prantl

Dürfen Wissenschaftler träumen? Natürlich dürfen sie, zumal dann, wenn ihre Träume so geerdet und so notwendig sind wie die von Winfried Hassemer. Er träumte nicht von einem Haufen Geld und nicht von noch mehr wissenschaftlichen Ehren. Beides hatte er, das Erstere in ausreichendem Umfang, das Zweite im Überfluss: Der Strafrechtsgelehrte, Rechtsphilosoph, Rechtsanwalt, ehemalige hessische Datenschutzbeauftragte und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts hatte einen Ruf wie Donnerhall; er war Ehrendoktor spanischer, portugiesischer, brasilianischer und chinesischer Universitäten.

Und er war das nicht zuletzt deswegen, weil er diesen Traum hatte: den Traum von einem Strafrecht, das nur wo erforderlich zum Einsatz kommt und mit dem die Menschen gut leben können. Er träumte von einem Strafrecht, das "Sanktionen klar formuliert und maßvoll bemisst - und das die von Strafverfahren betroffenen Menschen, wo nötig, nach Kräften schützt und schont". Wer Hassemer kannte, wer ihn mit Witz und Feuer reden hörte, der spürte: Das war noch mehr als ein Traum, es war eine begründete Hoffnung.

Diese Hoffnung auf ein "freiheitliches Strafrecht" Realität werden zu lassen, das war seine Lebensaufgabe.

Hassemer war ein eloquenter und schlagfertiger Meister des Wortes, er war ein glänzender Debattenredner, er war ein Vizepräsident am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, auf dessen mündliche Verhandlungen man sich schon tagelang vorher freute: Es waren nämlich Sternstunden des Verfassungsgerichts, wenn er mit heiterer Ironie die Ausflüge von Wissenschaftlern und Politikern ins Wolkige, ins Nebulöse und Pathetische beendete, wenn er dafür sorgte, dass die Verhandlung wieder Hand und Fuß hatte. Er konnte schwierigste Probleme durchdringen, vereinfachen und dann beredt darlegen wie kaum einer. Er war ein Professor, wie man ihn sich wünscht - kein Wolkenkuckucksheimer.

Er war einer, wie ihn Studierende und Experten lieben, weil es im Kopf klingelt, wenn man ihm zuhört. Aber auch wer über so grandiose Gaben verfügt - auch der hat es schwer, wenn die Zeitläufte einem freiheitlichen Strafrecht entgegenlaufen: Nach dem 11. September 2001, als weltweit das Sicherheitsrecht umfassend verschärft wurde, als das Maß verloren ging, um ein Ziel zu erreichen, dann war auch Hassemer bisweilen am Verzweifeln. Hassemer wusste zwar, dass Sicherheitsbedürfnisse "strukturell unstillbar" sind und dass "eine Schippe Sicherheit immer noch in den mit Kontrollen schon prall gefüllten Sack" passt. Aber dass es so viele Schippen sind, dass der Sack unerträglich wird - das hatte er nicht glauben wollen, bevor es passierte.

Streiter für das Recht, kein Krieger

Als Verfassungsrichter tat Hassemer was er konnte, um den Kern des Strafrechts zu bewahren. Ein Sonderrecht für jugendliche Intensivtäter oder für Terroristen hat er stets abgelehnt: "Verfolgung und Bestrafung ohne Rechte der Betroffenen sind kein Recht, sondern Krieg." Er war kein Krieger, er war ein freiheitlicher Geist, ein Aufklärer, ein Rechtsstaatler, ein Streiter für das Recht.

Gelernt hat er das, wie Hassemer selbst erzählt hat, beim großen Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann, seinem wissenschaftlichen Mentor und Lehrer. In dessen Arbeitszimmer hingen drei Bilder: Ein Bild von Voltaire, ein Bild von Edith Stein und ein Bild von Gustav Radbruch. Voltaire ist der Vordenker der Aufklärung, der ohne Vornamen auskam. Edith Stein war eine Philosophin und Nonne, die den Papst vergeblich aufgefordert hatte, gegen die Judenverfolgung zu protestieren, und die von den Nazis umgebracht wurde. Gustav Radbruch war einer der maßgeblichen Rechtsdenker und Justizminister der Weimarer Zeit.

Arthur Kaufmann hat seinen Besuchern und Schülern die "seltsame Collage" gern liebevoll erklärt. Bei allen dreien hat er "den Willen zur Wahrheit" bewundert, ihren Kampf gegen Unrecht, Irrtum, Verzagtheit und Halbherzigkeit. Das hat Hassemer geprägt, das hat er sich als einer der hervorragendsten Schüler von Arthur Kaufmann zu eigen gemacht - den Willen zur Wahrheit. Dieser Wille zur Wahrheit war bei Hassemer nichts Eiferndes, er hatte etwas Hoffnungsfrohes, ja Heiteres - schließlich war Hassemer ein Rheinhesse, gebürtig in der Stadt Gau-Algesheim.

Gegen einen NPD-Verbotsantrag hatte er nichts

Als Datenschützer - er war Nachfolger von Spiros Simitis im Amt des hessischen Datenschutzbeauftragten - hat er den Datenschutz geprägt und in guten wie in schlechten Zeiten verteidigt. In den schlechten Zeiten hat er ihn dadurch zu beleben versucht, dass er den Computer zu einem "ausgelagerten Teil des Körpers" erklärte. Als Strafrechtler hat er die Lockerung der Grenzen zwischen Geheimdienst und Polizei scharf kritisiert und den Deal im Strafprozess als "Erosionszeichen" beschrieben, auch mit der ihm eigenen Bissigkeit: "Wenn ich das Wort Konsens im Zusammenhang mit dem Strafrecht höre, sträuben sich bei mir die Nackenhaare."

Hassemer war Senatsvorsitzender am Bundesverfassungsgericht im gescheiterten Verbotsprozess gegen die NPD in den Jahren 2001 bis 2003. Er hat nicht geduldet, dass dem Gericht vergiftete Beweismittel vorgelegt wurden: Das Verfahren wurde daher wegen Unzulässigkeit eingestellt. Gegen einen Verbotsantrag mit sauberen Beweismitteln hatte er gar nichts - und er konnte sich gut vorstellen, dass ein neuer Antrag Erfolg haben könnte.

Ob das so kommt, wird Winfried Hassemer nicht mehr erleben. Er starb nach schwerer Krankheit am Donnerstag in seiner Wohnung in Frankfurt am Main, einen Monat vor seinem 74. Geburtstag.

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