Bundestagswahl 2009:Die Grünen: Schlaflos im Internet

Lesezeit: 3 min

Wahlkampf bis zur letzten Minute: Die Parteien ringen bis zuletzt um die Gunst der Wähler. Die Grünen verzichten dafür im Internet sogar auf Schlaf.

Michael König, Berlin

Stephan Schilling atmet tief durch, bevor er seine Antwort tippt. Es ist 2:57 Uhr in der Nacht zum Freitag und ein potentieller Wähler möchte von den Grünen wissen, ob sie Soldaten für Mörder halten. Das ist eine schwierige Frage, noch dazu um diese Uhrzeit, aber die Grünen haben Antworten versprochen.

Renate Künast und Jürgen Trittin bei der Präsentation der Webseite ihrer Partei: Die Grünen haben vielleicht noch am besten erkannt, welche Möglichkeiten das Internet bietet. (Foto: Foto: dpa)

Seit Donnerstagabend sind sie im Internet rund um die Uhr erreichbar. 72 Stunden, bis am Sonntag um 18 Uhr die Wahllokale schließen. "Drei Tage wach", lautet das Motto der Aktion. Stephan Schilling holt sich noch einen Kaffee.

Er gehört zu den etwa 200 Helfern, die bis Sonntag freiwillig ihr Bett gegen einen Platz am Schreibtisch eintauschen, um sechs, acht oder zwölf Stunden am Stück mit Wählern in Kontakt zu treten. Die Grünen wollen im Schlussspurt des Bundestagswahlkampfes jede Minute nutzen - im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind dabei so konsequent wie keine andere Partei.

Noch um drei Uhr nachts sitzen zwanzig Wahlkämpfer in der Berliner Parteizentrale. Einige werden von einer Kamera beobachtet, Bild und Ton werden per Livestream direkt ins Internet gespeist. Hin und wieder wird Musik eingespielt. In dem Raum, in dem normalerweise Pressekonferenzen abgehalten werden, riecht es nach Kaffee, Bier und der Abluft zahlreicher Computer. Die Stimmung unter den Wahlkämpfern ist gut. Ein Moderator macht Faxen vor der Kamera.

Die Grünen haben sich dem Wähler angepasst. Der Wähler schläft nie. Das hat die Öko-Partei im vergangenen Europawahlkampf gelernt, als ihr bei einer ähnlichen Aktion in 72 Stunden 3000 Fragen gestellt wurden. Diesmal sind es nach neun Stunden bereits mehr als 1100 Fragen.

Sie sind auf der Internetseite http://dreitagewach.gruene.de nachzulesen. Die Fragen werden freigeschaltet, sobald ein Wahlkämpfer geantwortet hat. Die Wahlkämpfer haben Argumentationshilfen zur Hand, eine hauseigene Wikipedia-Version hilft dabei, entsprechend der Parteilinie zu antworten. Je später die Stunde, desto größer die Herausforderung.

So hat ein Jäger das nächtliche Bedürfnis zu erfahren, warum die Grünen die Kaninchenjagd mit Falken ablehnen. In der Parteizentrale weiß niemand Rat. Der Tierschutz-Experte wird aus dem Bett geklingelt, dann bekommt der Jäger seine Antwort: Die Methode sei nicht artgerecht, weil Falken Wildtiere sind. Deshalb seien sie als Jagdwaffe des Menschen nicht geeignet.

Andere Fragen tauchen immer wieder auf - unabhängig von der Uhrzeit. Allein 15 Mal erklärt Stephan Schilling in dieser Nacht die Haltung der Grünen zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Der 26-Jährige war Sprecher der Grünen Jugend, heute ist er ein Fachmann für Sozialpolitik. Er hat das Wahlprogramm mitgeschrieben, er braucht das Wiki nur als Gedächtnisstütze. Schilling antwortet: "Wir sind grundsätzlich dagegen" und fügt die drei wichtigsten Argumente an, die seine Partei ausgearbeitet hat.

Die Frage nach möglichen Koalitionspartnern wird er am Ende seiner Schicht mehr als 40 Mal beantwortet haben. Der Tenor lautet jeweils: Wer Grün will, muss Grün wählen.

Doch egal, wie oft eine Frage bereits aufgetaucht ist: Kopieren und Einsetzen von Textbausteinen ist tabu, jede Antwort wird neu geschrieben. "Einfach, persönlich und ungeschminkt" sollen sie sein, sagt Robert Heinrich, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit bei den Grünen: "So wollen wir die Leute überzeugen."

Der Wahlkampf im Internet machte zuletzt parteiübergreifend nicht den Eindruck, als befriedige er die Wünsche der Wähler. Krude Parteilieder und groteske Videos rückten in den Vordergrund, zuletzt hüpfte gar ein vollbusiges Steinmeier-Girl durch die Netzgemeinde. Von einer Mobilisierung im Stile Barack Obamas wollte kaum ein Wahlkämpfer mehr sprechen. Vielmehr ging es darum, Peinlichkeiten zu vermeiden.

Dreißig bis vierzig Prozent der Wähler entscheiden sich erst kurz vor dem Urnengang, wem sie ihre Stimme geben, sagen die Demoskopen. Auch die CDU setzt im Endspurt deshalb auf ein 72-Stunden-Programm, geht dabei aber eher traditionell vor: Führende Politiker wie Generalsekretär Ronald Pofalla und Kanzleramtsminister Thomas de Maizière greifen zum Telefon, um Wähler zu motivieren.

Wahlkampfhelfer gehen in Kinos und Kneipen auf Stimmenfang. Durchaus bis spät in die Nacht, wie es im Konrad-Adenauer-Haus heißt, aber nicht durchgehend. Auch die Internetredaktion ist nicht ständig besetzt.

Ähnlich sieht es bei SPD und FDP aus: Sie setzen auf Straßenwahlkampf und die Strahlkraft ihrer Abschlusskundgebungen. Bei der Linken richtet Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch den Appell an die eigenen Leute, die Wahlzeitung zu verteilen: Das "locker aufgemachte Blättchen" sei jetzt das wichtigste Werbemittel. Das Internet erwähnt er mit keinem Wort.

Die Grünen verweisen darauf, dass ihre Klientel ganz besonders netzaffin sei - und sehen sich in ihrer Taktik bestätigt: Während der Uhrzeiger auf halb vier vorrückt, kommen auf dem Drei-Tage-Wach-Portal noch immer zwei bis drei Fragen pro Minute hinzu.

Die meisten Fragen behandeln konkrete Themengebiete wie Atomkraft oder Drogenpolitik. Warum die User sie ausgerechnet mitten in der Nacht stellen, fragt sich in der Grünen-Zentrale niemand. Manche Beiträge berichten von Schlaflosigkeit, manche von bloßem Interesse. Einige bedanken sich für die gute Unterhaltung. Nicht wenige schreiben, sie hätten sich dank dieser Aktion dazu entschieden, die Grünen zu wählen.

Andere lassen die Wahlkämpfer ratlos zurück: Ein User fragt, wie er seinen Fußpilz behandeln soll. Ein anderer will wissen: "Wie hat man Sex mit einem Geist?" Die Grünen haben nach kurzer Beratung auch darauf eine Antwort: "Die Politik muss sich nicht überall einmischen."

© sueddeutsche.de/gba - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: