Bundespräsident:Im Käfig des Außenministers

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„Ein Ort der Scham“: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau gedenken in Paneriai der hier 1941 ermordeten Juden. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kann bei seiner Reise durchs Baltikum nicht alle Erwartungen seiner Gastgeber erfüllen.

Von Constanze von Bullion, Rukla

Plötzlich ist er dann da, der Krieg, von dem unterwegs immerfort geredet wurde. Genauer gesagt: eine Ansammlung von Kriegsgerät auf einem Kasernenvorplatz. Ein bisschen wirkt sie wie aus Disneyland. Deutsche Panzer mit Tarnnetzen stehen hier, davor grimmige Soldaten mit schwarz bemalten Gesichtern. Der Bundespräsident wird gleich in ein Führungsfahrzeug klettern, und die litauische Präsidentin wird sagen: "Wir werden im Ernstfall sehr effektiv sein."

Freitag beim Nato-Kommando Enhanced Forward Presence im litauischen Rukla. Tausend Soldaten aus fünf Nationen sind hier stationiert, um unter deutscher Führung die Ostflanke der Nato zu sichern, jedenfalls theoretisch. Am Freitag tauchen Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender hier auf, es ist die letzte Station ihrer Reise durchs Baltikum, die vom Hitler-Stalin-Pakt zu deutscher Schuld und Russenangst geführt hat und zuletzt in einen Mörderwald.

Der Bundespräsident will Esten, Letten und Litauern deutsche Verlässlichkeit demonstrieren in einer Zeit, in der die Balten besorgt russische Militärmanöver an ihren Grenzen beobachten und die Krise der Europäischen Union. Vier Tage haben die Steinmeiers also Hände gedrückt, sind durch die mittelalterlichen Gassen von Tallinn spaziert, haben soziale Netzwerker bestaunt und sich von den Gastgebern immer wieder sanft erinnern lassen, dass die Balten von den deutschen Freunden etwas mehr erwarten als von anderen.

"Wir verstehen alle, dass Europa in seine Sicherheit mehr investieren will", sagt Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaitė, als sie sich beim Bundespräsidenten für das deutsche Nato-Kommando in Litauen bedankt - auch wenn sie die abschreckende Wirkung an der Ostflanke der Nato, nun ja, für steigerungsfähig hält. "Tausend Soldaten werden die Sicherheit nicht gewährleisten", sagt Grybauskaitė. Künftig müssten die Nato-Staaten hier noch "sehr viel investieren".

Dauernd wird Steinmeier unterwegs gefragt, ob zur Solidarität mit den Balten eigentlich auch ein höherer deutscher Militärbeitrag gehört. Dauernd soll er erklären, warum Deutschland den Bau einer neuen russischen Gaspipeline in der Ostsee unterstützt, den die Balten ablehnen. Als eine Estin wissen will, warum Steinmeiers Parteifreund Gerhard Schröder jetzt ganz groß ins russische Gasgeschäft einsteigen will, sieht er aus, als habe er einen Regenwurm verschluckt.

Aber neben den Russen sind es auch Polen und Ungarn, die die Balten umtreiben. In der lettischen Regierung macht man sich inzwischen offenbar größere Sorgen über die Aushöhlung demokratischer Werte in den westlichen Anrainerstasten als über die russische Aggression in der Ukraine. Es gebe in Polen und Ungarn "ein Missverständnis gegenüber unseren europäischen Werten", sagt Steinmeier. An diese Werte "müssen Staaten, in denen das nicht hinreichend beachtet wird, immer wieder erinnert werden".

Drei Länder in vier Tagen, ein Dauerlauf durch Geschichte, Sprachen, Befindlichkeiten

Reden, reden, reden, auch mit Demokratieverächtern - dieses Glaubensbekenntnis trägt der Bundespräsident durchs Baltikum. Nicht jeder mag es hören. In der ehemaligen deutschen Kulturverwaltung von Tallinn, wo altmodischer Blümchenstuck an die Bürgerwelt der Deutsch-Balten erinnert, warnt Steinmeier am Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes davor, Erinnerung zur "Waffe" gegen andere Völker zu machen. Mit anderen Worten: Die Erfahrung kommunistischen Unrechts rechtfertigt keine nationalistische oder anti-russische Scharfmacherei.

Als er fertig ist, steht ein Historiker auf. Das 20. Jahrhundert habe gezeigt, was passiere, wenn man Diktatoren gewähren lasse, sagt er. "Wenn der Aggressor nicht gestoppt wird, wird er so weit gehen, wie er kann." Die russischen Aggressionen beantworte Europa mit "Gleichgültigkeit", wie 1939. Das sehe er anders, gibt der Bundespräsident zurück. Seit dem Ukraine-Konflikt sei niemand "achselzuckend zur Tagesordnung" übergegangen.

Wenn Steinmeier sich ärgert, kann die gefühlte Raumtemperatur binnen Sekunden absacken. Der Blick zieht sich dann in eine unzugängliche Denkstube zurück. Man merkt dem Bundespräsidenten auch an, dass er raus will aus dem Käfig des ewigen Außenministers. Also setzt er sich mit seiner Frau in Riga vor den Kachelofen eines Kulturzentrums und diskutiert mit Studenten über soziale Medien.

"Wann haben Sie Ihre letzte gedruckte Zeitung gelesen?", fragt Steinmeier. "Oh", sagen sie. "Noch nie." Oder: "lange her." Es wird kurz still am Tisch, dann sagt jemand: "sorry." Es folgt ein Disput, bei dem die Jungen zu vermitteln versuchen, dass sie sich zwar fast nur bei Facebook und Buzzfeed informieren, aber trotzdem für Politik und Korruption interessieren. Politiker müssen ihre Themen lustiger verpacken, findet eine junge Frau. "Lustig?", fragt der Bundespräsident. "Glauben Sie wirklich, dass Politik lustig sein sollte?" "Politik sollte fesseln", antwortet sie. Steinmeier sieht ein wenig ratlos aus.

Drei Länder in vier Tagen, das ist ein Dauerlauf durch Geschichtszonen, Sprachen, Befindlichkeiten. Am Freitag kommt er vor einem Krater zu stehen. Im Wald hinter dem litauischen Ort Paneriai öffnet sich eine Grube wie ein aufgerissener Schlund. 70 000 Juden wurden 1941 hier erschossen, von Deutschen und ihren litauischen Helfershelfern. Jetzt ist es gespenstisch still. Jüdisches Leben, Wissen, Tradition, "all das ist hier vernichtet worden", wird Steinmeier sagen. "Deshalb ist es für uns ein Ort der Scham." Irgendwo hinter den Bäumen hört man einen Zug vorbeirollen.

© SZ vom 26.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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