Bremerhaven:Zurück in die Zukunft

Lesezeit: 5 min

Elend auf Ellis Island: Wie das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven neue Sichtweisen auf die Flüchtlingsproblematik in Deutschland eröffnet.

Von Peter Burghardt

An einem Sommertag, als im Mittelmeer wieder Flüchtlinge ertrinken, und Europa Aufnahme und Abschiebung von Einwanderern erörtert, herrscht reger Betrieb im Deutschen Auswandererhaus. Das holzgetäfelte Gebäude steht seit zehn Jahren am Kai von Bremerhaven, wo sich Weser und Nordsee treffen. Einst verließen hier 7,2 Millionen Menschen ihr altes Leben und fuhren in die neue Welt. Draußen wehen die Flaggen der Zielländer. USA, Kanada, Australien, Argentinien, Brasilien. Dahinter schippern Ausflugsboote vorbei. Drinnen kaufen Erwachsene für 12,80 Euro einen Boarding Pass mit einer Magnetkarte, gehen bei grünem Licht durch eine Schleusentür und betreten ein schummriges Wartezimmer.

Einst sammelten sich in einem Saal wie diesem die Exilanten aus der 3. Klasse der Reederei Norddeutscher Lloyd. Sie wollten oder mussten weg und konnten nur ahnen, was sie Wochen bis Monate später an anderen Ufern erwartete. "Hoffnung", ist auf einem Wegweiser zu lesen und in zackiger Schrift auf einem verblassten Schild "Warnung vor Bauernfängern", beides passt auch zum aktuellen Drama. In diesem Nachbau beginnt nun eine Zeitreise, die auf schwankende Schiffe führt, durch einen monumentalen Bahnhof, Behörden, Schicksale und Archive bis zurück auf das Diesseits der globalen Fluchtbewegung. Es ist ein Ausflug in eine Vergangenheit, an die sich möglichst viele Wohlstandsbürger erinnern sollten.

Ellis Island war für Einwanderer ein Schicksalsort. Auch für viele Kinder entschied sich hier, ob sie in den USA bleiben durften oder nicht. (Foto: Augustus Sherman/Hulton/Getty Images)

"In Europa gehen die Lichter aus, und wir werden es nicht mehr erleben, dass sie wieder angehen."

Scharen von Deutschen und Europäern gingen in vergangenen Jahrhunderten mit Einfachtickets an Bord. Sie verließen Deutschland und Umgebung, weil außer Terror, Tod, Hunger und Misere auf diesem Kontinent nur noch wenig zu erwarten war. "In Europa gehen die Lichter aus, und wir werden es nicht mehr erleben, dass sie wieder angehen", prophezeite der britische Außenminister Edward Grey im Ersten Weltkrieg, solche Verzweiflung schallt beim Rundgang durch zeitgenössische Telefonmuscheln. Unterdessen ist es anderswo auf der Erde finster geworden, in Damaskus, Bagdad oder Kabul. Berlin oder Stuttgart dagegen blühen, weshalb Syrer, Afghanen oder Iraker ihr Leben riskieren, um in solche Refugien zu gelangen.

Da ist es heilsam und dennoch bequem, in einem preisgekrönten Museum ein paar Stunden lang zu erleben, wie seinerzeit Bayern und Preußen aus vergleichbaren Gründen das Weite suchten. Sie fuhren nach New York, Toronto, Sydney, Buenos Aires oder Rio de Janeiro, dort gab es Frieden, Freiheit, Jobs und eine Zukunft, vielleicht sogar Verwandte. Sie hatten Wünsche und Träume im Gepäck wie diejenigen, die sich 2015 mit Schleppern und Smartphone vor köpfenden und bombenden Taliban oder Dschihadisten retten.

Auch für viele deutsche Familien war die Insel das Nadelöhr in die Vereinigten Staaten. (Foto: Lewis W. Hine/Getty Images)

Im Deutschen Auswandererhaus erklimmen die Besucher nach einem Streifzug durch die Epochen erst mal die Gangway an einer mächtigen Schiffsmauer und besichtigen Stockbettkabinen des Seglers Bremen, des Dampfers Lahn und des Liners Columbus. Die gesamte Ausstellung wurde rührend detailfreudig zusammen gestellt. Unten am Kopfsteinpflaster stehen zum Abschied Figuren mit Koffern zwischen Fässern, und hinter Bullaugen tost das Meer. "Ich werd' seekrank", kreischt ein Passant - die Passagiere kotzten sich bei Sturm die Seele aus dem Leib. "Das Essen war Schweinefraß", schrieb ein Zeuge. Nachher erreicht man durch einen beklemmenden Kachelgang Ellis Island vor Manhattan, die Insel der Tränen, mit Bänken hinter Maschendraht, erweitert um eine Ecke der Migrationsstelle von Buenos Aires am Río de la Plata.

Bei einem Selbstversuch am Touchscreen können einige der 29 Fragen beantwortet werden, die in den USA über das Bleiberecht entschieden. "Sind Sie körperlich behindert?" "Sind Sie polygam?" Am Ende des Kurzverhörs leuchtet im günstigen Fall "Welcome to America".

Anschließend geht's durch ein Terminal von Grand Central, von wo aus die Fremden gleich mehrere amerikanischer Hamburgs oder Hannovers ansteuerten. Nachfahren der Pioniere trifft man ja überall, auch in Nueva Braunau in Chile oder Nueva Germania in Paraguay. Und was wären die USA ohne ihr Wurstfest?

Viele mussten von hier aus wieder die Rückreise antreten. Das verschaffte der Immigrantenstelle den Namen "Träneninsel". (Foto: National Archives/Getty Images)

"Ärztin? Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, gehen Sie mit Ihrem Mann in einen Haushalt, als Dienstpersonal."

Tausende Biografien hat das Deutsche Auswandererhauses in einem Jahrzehnt dokumentiert, pro Eintrittskarte werden zwei Chroniken an jeder Station erzählt. Da ist die Geschichte der Berliner Ärztin Hertha Nathorff, die den Nazis mit ihrem Mann über London 1940 nach New York entkam und im Land der unbegrenzten Möglichkeiten von der Putzfrau zur Chronistin wurde. "Ärztin?", spottete eine US-Beamtin. "Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, gehen Sie mit Ihrem Mann in einen Haushalt, als Dienstpersonal."

Da ist die Geschichte der Familie Tesch, die der vormalige australische Botschafter Peter Tesch der Sammlung überließ. Sein Urgroßvater kam 1864 aus der Uckermark nach Queensland, seine Mutter zog 1958 nach Brisbane. Der Oberbayer Wilhelm Schleich aus Hohenpeißenberg wiederum schmuggelte sich mit drei Dollar Bargeld in die USA, der jüdische Musiker Hermann Ehrenhaus setzte seine von den Nationalsozialisten unterbrochene Karriere in Argentinien fort. Erich Koch-Weser wurde vom verfolgten Minister der Weimarer Republik zum Kaffeefarmer in Brasilien, sein Enkel Caio brachte es später zum Direktor der Weltbank und Finanzstaatssekretär der Bundesregierung. Martha Hüner aus Geestemünde bekam 1823 von ihrem Vater eine Pferdebürste, als sie Richtung USA ablegte - fast 200 Jahre danach ruht das Erbstück wie eine Ikone der Zähigkeit im Deutschen Auswanderhaus.

Von Bremerhaven aus traten viele Menschen die Reise in die neue Welt an. (Foto: Sammlung Deutsches Auswandererhaus)

Mehr als sieben Millionen Menschen setzten sich aus Bremerhaven ab, fünf Millionen aus Hamburg. Gewaltige Zahlen, allein die Relationen sind vielfach kaum bekannt. Die Museumsdirektorin Simone Eick erlebt das immer wieder. Zum Beispiel wurden in den vergangenen Monaten angesichts der Flüchtlingsdebatte mehr als 500 Gäste befragt, eine Frage ging so: "Was schätzen Sie, wie viele Flüchtlinge durften im vergangenen Jahr in Deutschland bleiben?" Nur drei Prozent der Interviewten kannten eine annähernd richtige Antwort: Es waren, so Eick, 42 500 Ausländer: "0,04 Prozent der Bundesbevölkerung". Mehr als jeder Zehnte dagegen war der Meinung, dass es mehr als eine Million gewesen seien. "Da ist die Angst vor Überfremdung", sagt die promovierte Historikerin und Migrationsforscherin Eick, "da sind Unsicherheit und Hilflosigkeit." Manche Asylbewerber wohnen auch in einer ehemaligen Kaserne von Bremerhaven, wo trotz des riesigen Hafens 17 Prozent der Einwohner arbeitslos sind.

Seit seiner Eröffnung 2005 leitet Simone Eick das Einwanderhaus, die Diskussion um Kopftücher, Kruzifix und Aufenthaltsgenehmigung schlug derweil Wellen. Entsprechend wurde der Bau 2012 erweitert, eine Brücke führt auf die andere Seite. "Willkommen in der Bundesrepublik Deutschland", steht da zur Begrüßung neben einem Auszug aus dem Grundgesetz und einem Abriss von 300 Jahren Einwanderung. "Deutschland war und ist ein Land der Einwanderer und Auswanderer", hört man vom Band - diese Tatsache versuchen gerade Politiker und Wähler zu verstehen.

Die deutsche Hälfte dieses Phänomens ist schön konsequent im poppigen Stil des Jahres 1973 gehalten, mit Tri Top am Kiosk, Kaufhof und Bonanza-Musik. Denn die Bundesregierung stoppte in jenem 1973 den Zuzug von Gastarbeitern, wie die Handwerker aus Italien, Spanien, Portugal und der Türkei genannt wurden. Zum Glück blieben Millionen der Gäste und gründeten Familien, auch deren ausgewählte Odysseen sind mit dem Museumsticket verknüpft. Wie die der Türkin Serife Seyitler, die 1969 aus Adana ins windige Bremerhaven wechselte und bei der Firma Nordsee anheuerte, ihre Kinder und Enkel sind längst auf beide Länder verteilt. Oder die eingebürgerten Serben aus einem zerfallenden Jugoslawien, 470 000 Opfer der Balkankriege kamen in den 90er Jahren nach Deutschland. Zur weiteren Nostalgie dienen drei Kurzfilme im Roxy-Kino wie der über die deutschen Argentinier, von denen einer stolz verkündet: "Ich bin im Bauch meiner Mutter ausgewandert."

200 000 Interessenten schauen sich diese Beiträge zu Aufklärung und Unterhaltung jedes Jahr an. Manche unterscheiden dabei mehr oder weniger direkt. "Das Historische wird als etwas Schönes wahrgenommen, romantisiert", beobachtet die Geschäftsführerin Eick. Amerika! Eroberer von Wall Street und Urwäldern! Osten und Islam schneiden deutlich schlechter ab als der Wilde Westen. "Latenten Rassismus" entdeckt Simone Eick, trotz der mehrheitlichen Neugierde und Hilfsbereitschaft. Mit Büchern und Workshops versucht die Einrichtung zeitgemäß zu unterrichten, es geht nun auch um Syrien und Religion. Auf der Speisekarte im Restaurant stehen aber US Beef Burger, argentinisches La Morocha Rumpsteak oder "Dessert gegen Fernweh oder gegen Heimweh"

"Ich weiß nicht, ob jeder den Bogen zur Gegenwart schlägt", sagt eine Besucherin aus Baden. Obwohl es den Flüchtlingen seinerzeit doch ähnlich gegangen sei wie denen heute. Sie hat entfernte Angehörige in den USA - wer nach einem unbekannten Onkel in Amerika suchen möchte, der kann das in der Datenbank des Auswandererhauses am Computer tun. "Wie schwierig das alles war, und wie schwierig es ist", sagt ein Rheinländer. "Da wurdest du in ein paar Minuten aussortiert, das ist heute nicht anders." Ein anderer Herr tänzelt, als er ins Freie tritt: "Nach Argentinien würd' ich abhauen. Dann tanz' ich Tango."

© SZ vom 08.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: