Brasilien:Spuk der Scharlatane

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Was ist der Unterschied zwischen Norwegen und Schweden? Egal. Michel Temer wird längst nicht mehr an seinen politischen Kenntnissen gemessen. (Foto: Ueslei Marcelino/Reuters)

Der Generalstaatsanwalt klagt Präsident Temer der Korruption an - ein Zeichen für die tiefe Systemkrise, in der das ganze Land steckt.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Der Ort, an dem Michel Temer seine Staatskunst ausübt, heißt Palácio do Jaburu. Es ist die Residenz des brasilianischen Vizepräsidenten. Brasilien hat aber gar keinen Vizepräsidenten mehr, seit der Stellvertreter Temer im vergangenen Jahr seine langjährige Vorgesetzte Dilma Rousseff stürzte. Er hat ihren Job übernommen, nicht aber ihre Residenz, weil er der Meinung ist, dass es dort spukt. Schon daran ist zu erkennen, dass gerade einiges schiefläuft in der größten Demokratie Lateinamerikas. Nun ist zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens ein amtierender Staatschef mit einer Anklage konfrontiert. Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot beschuldigt Michel Temer der Korruption.

Temers gelinde gesagt umstrittenen Staatskünste tauchen fast nur noch in den Randnotizen oder Glossen auf. Zum Weltfrauentag hatte er erklärt, niemand sei fähiger, auf Preistreiberei im Supermarkt hinzuweisen als "die Frau". Vergangene Woche verwechselte er Norwegen mit Schweden - während seiner Dienstreise in Norwegen. Trotzdem wäre es aus Sicht des Unternehmers Joesley Batista grundfalsch, den 76-jährigen Präsidenten als leicht senile Witzfigur abzustempeln. Batista, der Inhaber von JBS, dem weltgrößten Fleischkonzern mit Sitz in São Paulo, bezeichnete Temer öffentlich als den "Chef der mächtigsten Verbrecherorganisation des Landes". Gemeint war offenbar seine Regierungspartei PMDB.

Batista, 45, hat das so oder so ähnlich auch gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft erklärt. Seine Aussage gehört zu einem umfassenden Korruptionsgeständnis, mit dem der Fleischbaron versucht, seine Haut zu retten. Dafür muss er den Ermittlern etwas anbieten. Batista hat sich entschlossen, den Skalp des Staatschefs zu liefern. Um seinen schweren Vorwurf zu belegen, ließ er sich vor einigen Wochen von seinem alten Klüngelfreund Temer in den Palácio do Jaburu einladen. Was der Gastgeber nicht wusste: Batista war verkabelt. Den entsprechenden Gesprächsmitschnitt kennt inzwischen ganz Brasilien.

Der einstige Shooting-Star der Brics-Staaten ist zum Stillstand verdammt

Nicht nur Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot ist der Meinung, dass darauf eindeutig zu hören ist, wie Batista und Temer die Details eines Bestechungssystems besprechen. Dazu gehört die unzweideutige Anordnung, einen Mitwisser der Korruptionspraktiken mit Schweigegeld ruhigzustellen. Dabei handelt es sich um den früheren Parlamentspräsidenten und heutigen Untersuchungshäftling Eduardo Cunha, der gemeinsam mit Temer das Impeachment-Verfahren gegen die frühere Präsidentin Rousseff orchestriert hatte. Die Aufnahme ist eines der wichtigsten Beweisstücke der Korruptionsanklage gegen den Präsidenten, die Generalstaatsanwalt Janot am Montagabend dem Obersten Gerichtshof vorlegte.

Janot hat aber noch ein zweites Ass im Ärmel: ein Videomitschnitt der Bundespolizei, auf dem zu sehen ist, wie ein Mitarbeiter von JBS einen Koffer mit 500 000 Reais (etwa 135 000 Euro) an einen engen Vertrauten Temers übergibt. Der Generalstaatsanwalt ist sich sicher, dass dieses Geld für den Präsidenten bestimmt war und dass es sich nur um die erste Tranche von insgesamt 38 Millionen Reais handelt. In einem funktionierenden Rechtsstaat ließe sich aus alldem schließen: Temer sitzt in der Falle, ihm bleibt nur der Rücktritt. Aber dies ist Brasilien, da läuft das anders.

Am Montag hatte der Präsident noch einmal tapfer erklärt: "Nichts wird uns zerstören - nicht mich und nicht unsere Minister." Tatsächlich gibt es für ihn Grund zur Hoffnung, dass er sich bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen im Herbst 2018 an sein Amt klammern kann. Denn ob es tatsächlich zu dem Prozess vor dem Obersten Gericht kommt, hängt - wie so oft in Brasilien - nicht von der Faktenlage ab, sondern von den Machtspielchen im Parlament. Dort kann Temer das Verfahren blockieren, solange er ein Drittel der Abgeordneten auf seiner Seite hat. In den kommenden Tagen wird er also um jede Stimme klüngeln müssen, um seinen Job zu retten. Viele Abgeordnete stehen ebenfalls im Visier der Staatsanwälte, weshalb Temer bislang auf ein Netz der Solidarität bauen kann. Aber dieses Netz ist rissig, wer nicht mehr tragbar ist, wird fallen gelassen. Falls der Kongress das Verfahren freigibt, würde Temer zunächst für 180 Tage suspendiert. Im Fall einer Verurteilung durch das Oberste Gericht droht ihm eine langjährige Haftstrafe. Bis Klarheit herrscht, dürften jedoch Wochen, wenn nicht Monate vergehen. Brasilien, der einstige Shooting-Star der Brics-Staaten, ist damit weiter zum Stillstand verdammt.

Korruption und Bestechung sind keine Skandale, sondern die Regel

Seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 gab es hier sechs Präsidenten und eine Präsidentin. Mehr oder weniger unter Korruptionsverdacht stehen sie alle. Zwei von ihnen wurden per Impeachment gestürzt, zwei weitere werden gerade angeklagt. Muss man sich da noch wundern, dass die Brasilianer allmählich den Glauben an ihre Demokratie verlieren? Wundern muss man sich eher, dass derzeit nicht Millionen auf den Straßen sind, um die Absetzung Temers zu fordern. An Zuneigung kann es nicht liegen, seine Popularitätswerte liegen bei sieben Prozent - ein brasilianischer Negativrekord. Warum also lehnt sich das Volk nicht gegen ihn auf? Vielleicht weil es nicht mehr weiß, wofür das eigentlich gut sein soll. Viele haben das Gefühl: Wenn wir einen Scharlatan davonjagen, dann kommt halt der nächste.

Brasilien steckt erkennbar in einer Systemkrise, in der Korruption und Bestechung keine Skandale sind, sondern die Regel. Im Parlament sitzen an die 30 Parteien, aber die meisten von ihnen, darunter Temers PMDB, sind ideologiefreie Hüllen, die Loyalität meistbietend verkaufen. Deshalb sind viele Brasilianer der Ansicht: Wenn das ewige Land der Zukunft endlich mal in der Gegenwart klarkommen möchte, dann braucht es neben einem anderen Präsidenten wohl auch einen kompletten politischen Neuanfang.

© SZ vom 28.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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