Brasilien:Regierung vermisst

Lesezeit: 4 min

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff hat nicht nur in der Politik Feinde. Auch auf der Straße würden einige sie lieber im Gefängnis als im Amt sehen. (Foto: Sebastiao Moreira/dpa)

Brasilien hat das Zika-Virus, eine immense Inflation und einen Korruptionsskandal. Doch statt das Land durch die Krise zu führen, bekriegen sich die Politiker.

Von Sebastian Schoepp, München

Brasiliens Senat soll an diesem Mittwoch über die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff abstimmen. Das war zumindest am Dienstag der Plan, und so wie die Mehrheitsverhältnisse in der zweiten Parlamentskammer sind, würde das ziemlich sicher heißen, dass sie danach den Palácio do Planalto, den Regierungssitz in der Hauptstadt Brasília, wird räumen müssen. Doch ob der Senat tatsächlich abstimmt, wurde im Laufe des Dienstag wieder unklar: In letzter Minute wollte die Regierung die Amtsenthebung höchstrichterlich stoppen zu lassen: Sie werde vor dem Obersten Gericht die Annullierung des Verfahrens gegen Rousseff verlangen, teilten deren Anwälte mit. Sollte das Gericht dem eine Abfuhr erteilen, könnte der Senat die Präsidenten vorerst für bis zu 180 Tage vom Amt suspendieren, in denen die Vorwürfe gegen sie erneut juristisch im Senat unter Beteiligung des Obersten Gerichts geprüft werden. Die Olympischen Spiele würde dann Vizepräsident Michel Temer eröffnen, den Rousseff als Verräter bezeichnet. Doch völlig sicher sein kann man sich im Tollhaus Brasilien derzeit über nichts. Am Montag löste der neue Präsident der anderen Kammer des brasilianischen Parlaments, des Abgeordnetenhauses, kurzzeitig allerhöchste Verwirrung aus. Waldir Maranhão teilte auf Facebook mit, das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff sei ausgesetzt. Er habe die Abstimmung von April, die das Verfahren eingeleitet hatte, annulliert. Die Präsidentin habe nicht genug Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen. Damit folgte er der Argumentation mancher Juristen aus dem Umfeld der Regierung. Wenige Stunden später ruderte Maranhão zurück. In einem Schreiben an den Senatspräsidenten, das brasilianische Zeitungen veröffentlichten, teilte er mit, er nehme seine Entscheidung zurück. Er annullierte also die Annullierung. Senatspräsident Renan Calheiros mag es mit einem Lächeln quittiert haben - er hatte sowieso nie einen Zweifel daran gelassen, dass er die Abstimmung über Rousseffs Schicksal an diesem Mittwoch in jedem Fall durchziehen wollte, egal, was sein Widersacher im Abgeordnetenhaus sagt. Dann kam die Ansage, Roussefs Regierung werde sich an das oberste Gericht wenden, um das Verfahren zu stoppen.

Was den bisher wenig auffälligen Maranhão zu seiner Volte bewegt haben mag, darüber wird heftig spekuliert in brasilianischen Medien. Eigentlich ist der neue Präsident des Abgeordnetenhauses nicht als Parteigänger Rousseffs bekannt. Er war eher ein Vertrauter seines Vorgängers Eduardo Cunha, eines Erzfeindes Rousseffs, der das Verfahren gegen die Präsidentin in Gang gesetzt hatte - bis er selbst über Korruptionsvorwürfe stolperte. In sozialen Netzwerken wurde die Vermutung geäußert, Geltungsbedürfnis habe den Hinterbänkler Maranhão angetrieben, der aus der tiefen Provinz kommt.

Selbst die Präsidentin gab sich am Montag verdattert, als Maranhãos einsame Entscheidung bekannt wurde. Doch ist in Brasiliens Politikbetrieb nie wirklich durchsichtig, wer zuletzt welche Fäden gezogen hat. Der Ex-Präsident des Obersten Gerichtshofs, Joaquim Barbosa, jammerte öffentlich, Brasilien sei derzeit eine "Lachnummer" vor der Welt. Auch deutsche Wirtschaftsvertreter, die in Brasilien aktiv sind, machen sich seit Langem Sorgen um die Regierbarkeit des Landes.

Angesichts der vielen Krisen, in denen Brasilien steckt, vermissen die Brasilianer gerade jetzt eine handlungsfähige Regierung. Ein neuer Ausbruch des vom Zika-Virus hervorgerufenen Fiebers beunruhigt die Menschen. Dazu kommt eine zweistellige Inflation, steigende Arbeitslosigkeit, die schlimmste Rezession in einem Vierteljahrhundert und der Korruptionsskandal um den staatlichen Ölförderer Petrobras, einst Vorzeigebetrieb, in den zahlreiche Politiker verwickelt sein sollen. Dilma Rousseff saß lange im Aufsichtsrat von Petrobras, beteuert aber, von den Unregelmäßigkeiten nichts mitbekommen zu haben. Was bei Kritikern Zweifel an ihrer Eignung für so einen Posten hervorrief - von der Präsidentschaft ganz zu schweigen.

Die konservative Opposition sieht ihre Chance, die Macht ohne eine Wahl zu erobern

Viele derer, die Rousseff vor sich hertreiben, sind aber selbst der Korruption verdächtig oder müssen sich bereits für Schmiergeldvorwürfe verantworten - wie der gefallene Parlamentspräsident Cunha. Rousseff selbst wird keine Korruption vorgeworfen, beim Amtsenthebungsverfahren geht es um angebliche Tricks, mit denen sie den Haushalt geschönt haben soll, um 2014 für ihre Wiederwahl zu werben.

Die konservative Opposition, die die drei vergangenen Wahlen verloren hat, sieht nun aber die Chance, vor der Zeit und ohne Wahl die Macht zurückzuerobern. Dazu kommt eine Reihe von Opportunisten, die sich Posten in der Regierung des bisherigen Vizepräsidenten Temer erhoffen. Temer selbst hat seine Antrittsrede bereits eingeübt, populär ist er allerdings nicht. Laut Umfragen würde ihn kaum ein Brasilianer wählen. In sozialen Netzwerken wird er gerne mit der Figur eines Butlers im Horrorfilm verglichen. Der 75-Jährige ist mit einem jungen Supermodel verheiratet, das ihn auch ohne Absätze um einen Kopf überragt, und das stets betont, es sehe seine Rolle zu Hause am Herd und bei den Kindern. Das sagt viel über das Gesellschaftsmodell, das Leute wie Temer vertreten.

Der Vizepräsident bastelt bereits an seiner Regierungsmannschaft. Er gehört der ideologisch kaum einzuordnenden Partei der Demokratischen Bewegung Brasilien (PMDB) an, die vor allem die Eliten vertritt. Er hat angekündigt, ganz auf Liberalisierung und Privatisierung zu setzen, will also den Kurs Rousseffs und ihres Vorgängers Lula da Silva komplett umkehren. Allerdings wirkt es da wie ein Widerspruch, dass er ausgerechnet Henrique Meirelles zum Wirtschafts- und Finanzminister machen will. Der war unter Lula acht Jahre lang Zentralbankchef und arbeitete zuletzt als Lobbyist. Das Außenministerium soll José Serra übernehmen, ein Konservativer, der Lula bei der Präsidentschaftswahl 2002 und Rousseff bei der Wahl 2010 unterlag. Dem früheren Gouverneur des wirtschaftsstarken Bundesstaates São Paulo werden immer noch Ambitionen auf die Präsidentschaft zugeschrieben. Nun erhält er voraussichtlich die Chance, ohne Wahl in ein hohes Amt aufzusteigen.

Dilma Rousseff hat angekündigt, weiterkämpfen zu wollen. Sie darf, auch wenn der Senat sie am Mittwoch für 180 Tage absetzt, vorerst ihre Bezüge behalten und im Präsidentendomizil wohnen bleiben.

© SZ vom 11.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: