Brasilien:Mit Vollgas in die Vergangenheit

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"Cunha, hau ab": Frauen protestieren gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts - eine Initiative des konservativen Parlamentspräsidenten. (Foto: Silvia Izquierdo/AP)

Parlamentschef Eduardo Cunha hat mehr Macht denn je. Das Land treibt er nach rechts - und Präsidentin Dilma Rousseff vor sich her.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Wenn die offiziellen Statistiken stimmen, dann wird in Brasilien etwa alle zehn Minuten ein Mensch erschossen. Nicht selten trifft es unbeteiligte Passanten, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind, wenn sich Räuber und Gendarmen auf offener Straße bekriegen. In keinem Land der Welt tötet die Polizei häufiger und hemmungsloser, das geht aus einem Bericht von Amnesty International hervor. Selbst vermeintliche Routineeinsätze arten regelmäßig zu wilden Feuergefechten aus, auch deshalb, weil in diesem Land viel zu viele Waffen kursieren. Die Politik schaut tatenlos zu, das ist ein weit verbreitetes Gefühl in der Bevölkerung. Aber das stimmt nicht ganz.

Einflussreiche Politiker in Brasília tun sehr wohl etwas. Das Parlament stimmt demnächst über einen Gesetzesentwurf ab, der das brasilianische Waffengesetz reformieren soll. Allerdings nicht in die Richtung, die ein naiver Beobachter erwarten würde. Die Regeln sollen nicht verschärft, sondern weiter gelockert werden. Das Mindestalter für den Erwerb von Waffen soll dem Entwurf zufolge von 25 auf 21 Jahre sinken. Auch Vorbestrafte könnten dann legal shoppen gehen, bis zu zwei Pistolen und vier Gewehre pro Person. "Es geht um das Recht der Bürger, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen", heißt es in dem Papier. Kritiker sehen darin einen Etappensieg der Waffenlobby.

Auch der brasilianischen Agrarlobby geht es gut. Vor wenigen Tagen wurde im Parlament eine Verfassungsänderung auf den Weg gebracht, um den Zuschnitt der indigenen Schutzgebiete neu zu regeln - eine alte Forderung von Großgrundbesitzern und Vertretern der industriellen Landwirtschaft, ein Erfolg für Freunde der kommerziellen Abholzung des Regenwaldes. Siegeslaune herrscht ferner bei der Kirchenlobby. Das sogenannte Familienstatut hat die erste parlamentarische Hürde passiert. Der Gesetzentwurf soll im Kern die 2011 eingeführte Homo-Ehe abschaffen und die Familie "als Vereinigung zwischen Mann und Frau" definieren.

Es dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben, dass Brasilien nicht nur in einer wirtschaftlichen, sondern auch in einer politischen Krise steckt. Gänzlich falsch ist allerdings die Annahme, das größte Land Südamerikas verharre im Stillstand. Es bewegt sich sehr wohl. Zurück in die Vergangenheit.

Hauptdarsteller im Albtraum der von Skandalen gelähmten Regierungschefin

Dilma Rousseff, die linksgerichtete Staatspräsidentin, unterstützt keines der oben genannten Gesetze. Aber sie hat im Moment nicht viel zu melden. Das ist der Kern der brasilianischen Krise. Die Präsidentin ist leidlich ausgelastet mit dem Versuch, ihr politisches Überleben zu sichern. Sie wirkt dabei wie gelähmt und wurschtelt ohne erkennbares Konzept vor sich hin. Das Machtvakuum hat Eduardo Cunha besetzt, der Parlamentspräsident. Der 56-Jährige ist im Moment der Hauptdarsteller eines politischen Trauerspiels.

Cunha gehört zu den führenden Köpfen der PMDB, der seltsamsten Partei Brasiliens. Sie ist der wichtigste Koalitionspartner der Arbeiterpartei von Dilma Rousseff - und ihr größter Albtraum. Angeführt von Cunha hat sich die ideologisch flexible PMDB zur regierungsinternen Opposition entwickelt, die nicht nur die Präsidentin, sondern das ganze Land zum Narren hält. Cunha entscheidet, welche Gesetzesinitiativen im Dickicht der Bürokratie verschwinden und welche den Abgeordneten zügig zur Abstimmung vorgelegt werden. In der Warteschleife hängt zum Beispiel ein umfassendes Sparpaket der Präsidentin, das den Haushalt konsolidieren soll. Vorangetrieben werden dagegen erstaunlich viele Projekte der sogenannten Bancada BBB, der Bibel, Blei- und Bullenfraktion. Dabei handelt sich um eine parteiübergreifende Allianz aus religiösen Fundamentalisten, einstigen Soldaten und Großgrundbesitzern, die zusammen mehrheitsfähig sind. Mit Unterstützung von Cunha.

Beim Parlamentspräsidenten liegt auch das letzte Wort bezüglich eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma Rousseff. Der wird unter anderem vorgeworfen, ihre Wahlkämpfe mit Schmiergeld von Zulieferern des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras finanziert zu haben. Die Indizienlage ist bislang überschaubar. Cunha lässt die Gerüchte seit Monaten köcheln, ohne sich klar zu positionieren. Damit treibt er die Präsidentin vor sich her.

Wie er zu seinem einflussreichen Posten kam? Gott habe ihn eingesetzt, behauptet Eduardo Cunha. Ein Wunder ist jedenfalls, was der Allmächtige ihm so alles durchgehen lässt. Cunha gehört zu den Hauptbeschuldigten im Petrobras-Skandal. Fünf Kronzeugen der Staatsanwaltschaft sagten übereinstimmend aus, dass er Schmiergeld in Millionenhöhe bezogen habe. Als Angeklagter im Untersuchungsausschuss schwor Cunha hoch und heilig, keine Konten im Ausland zu besitzen. Und er hält sich wacker im Amt, obwohl die Schweizer Behörden inzwischen zahlreiche seiner Konten sperrten, die angeblich nie existierten. Inzwischen hat auch der Ethik-Rat des Parlaments in Brasília ein Verfahren gegen den Parlamentspräsidenten eröffnet. Der lügt einfach munter weiter - und kommt damit bislang durch. Alles im Namen Jesu, versteht sich.

Cunha gehört zu den einflussreichsten Evangelikalen des Landes, eine seiner Firmen heißt "Jesus.com", auch sie ist von Korruptionsvorwürfen belastet. Seine politische Agenda changiert zwischen erzkonservativ und homophob. Zu seinen Lieblingsprojekten gehört die Einführung eines gesetzlich verankerten "Tages des Hetero-Stolzes". Das meiste davon könnte Dilma Rousseff per Veto verhindern. Sie muss aber abwägen, wieweit sie Cunha herausfordern will. Der kann jederzeit mit dem Impeachment drohen. Und so driftet ein zuletzt recht weltoffenes Land mehr und mehr nach rechts. Falls Rousseff aber tatsächlich vorzeitig abtreten muss und die alten Eliten auch formell die Macht übernehmen, dann können die derzeit extrem regierungskritischen Brasilianer zumindest nicht sagen, sie hätten nicht gewusst, was sie erwartet.

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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