Aufarbeitung der Militärdiktatur in Brasilien:"Wer schweigt, für den geht die Folter weiter"

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"Es wird immer noch gefoltert": Fast 30 Jahre stand Brasilien unter einer Militärdiktatur, die Verbrechen dieser Zeit wurden bis zuletzt verdrängt. Nun sollen sie aufgeklärt werden - doch die auch heute noch einflussreichen Streitkräfte bremsen die Initiative.

Peter Burghardt, São Paulo

Sie kennt den Weg in Brasiliens Hölle, es ist heutzutage eine Spazierfahrt. Rita Sipahi setzt sich ins Auto und fährt vom schicken Viertel Higienópolos ins Zentrum von São Paulo. 1971 landete die damalige Regimegegnerin hier im Repressionslager Dops, zuvor war sie in einem anderen Folterkeller der Militärdiktatur misshandelt worden. Hinter diesen Mauern überstand die Gefangene Sipahi weitere Verhöre und Torturen, ehe sie ein paar Ecken weiter im Gefängnis Tiradentes Leidensgenossin der damaligen Guerillera und heutigen Präsidentin Dilma Rousseff wurde.

"40 Jahre lang haben wir kaum darüber geredet, es ist verrückt", sagt Sipahi, eine Aktivistin und pensionierte Anwältin von Anfang Siebzig. Aber jetzt redet sie, jetzt reden viele. Jetzt ist die brasilianische Vergangenheit wieder präsent, obwohl sich die sechstgrößte Wirtschaftsmacht doch so gerne der Zukunft zuwendet.

Der frühere Schreckenshort Dops ist inzwischen eine Gedenkstätte, Gäste können sich in Zellen setzen und Horrorgeschichten lauschen. 1964 hatte Brasiliens Armee geputscht und bis 1985 geherrscht, länger als die meisten anderen Juntas in Südamerika. Die Generäle in Brasilia verfolgten schon vor den Offizieren in Argentinien oder Chile Guerilleros, Andersdenkende, Linke, und Unschuldige.

Anders als in Buenos Aires oder Santiago war diese bleierne Zeit allerdings bis zuletzt kaum ein Thema im größten Land der Region - das Boomland beschäftigten Wachstum und Ölfunde, bald stehen Fußball-WM und Olympische Spiele an. Fortschritt statt Rückschau. Doch seit die ehemalige Rebellin und Gefolterte Rousseff die 192 Millionen Brasilianer leitet, beginnt sich die Nation an das Drama zu erinnern.

Ende 2011 entstand eine Wahrheitskommission, die das Grauen dokumentieren soll. Rita Sipahi gehörte zu den ersten Auserwählten, ihre einstige Mitgefangene Rousseff lud sie zum Festakt in den Regierungspalast Planalto ein. "Es ist wichtig, dass die Bevölkerung, vor allem die Jungen und die künftige Generation, unsere Vergangenheit kennen, als viele Leute verhaftet, gefoltert und umgebracht wurden", sagte Präsidentin Rousseff.

Es gab in Brasilien zwar deutlich weniger Diktatur-Opfer als in Argentinien oder Chile. Mal ist von 475 Toten und Verschwundenen die Rede, mal fällt die Zahl noch kleiner aus. "Es sind mehr", glaubt indes Rita Sipahi. Und Zehntausende wurden schikaniert oder flohen ins Ausland. All das soll nun die Wahrheitskommission klären. "Ohne Revanchismus, aber auch ohne die Komplizenschaft des Schweigens", versprach Rousseff.

"Warnung an die Nation"

Doch in Kasernen wird die Initiative als Affront verstanden und gebremst. 235 Reservisten unterschrieben eine Protestnote mit dem provozierenden Titel "Warnung an die Nation". Sie erkennen darin nicht mal den Verteidigungsminister Celso Amorim an. Die Meuterer wurden von der Armeeführung zur Ordnung gerufen, aber auch der brasilianische Militär-Club lehnt die Aufklärung ab und erinnert an das Amnestiegesetz von 1979. Mit diesem Regelwerk sicherten sich die Mörder und Entführer damals Straffreiheit, gleichzeitig kamen Oppositionelle frei oder kehrten aus dem Exil zurück. 2010 lehnte der Oberste Gerichtshof Brasiliens einen Antrag auf Revision der Amnestie ab. Auch der vormalige Präsident und einstige Streikführer Luiz Inácio Lula da Silva fand, man solle keine Uniformierten verurteilen.

Der Einfluss der Streitkräfte ist 27 Jahre nach der Rückkehr Brasiliens zur Demokratie immer noch gewaltig. Zum Schutz von Küsten und Bodenschätzen wird sogar ein Atom-U-Boot angeschafft, und die schießwütige Militärpolizei besetzt Armenviertel, die sogenannten Favelas. "Es wird immer noch gefoltert", sagt Rita Sipahi. Außerdem stellt Brasilien den größten Teil der UN-Blauhelme in Haiti.

Das Selbstbewusstsein des Militärs bekommt nun auch Lulas Nachfolgerin Rousseff zu spüren bei ihrem Versuch, Licht ins Dunkel der Geschichte zu bringen. Der General Luiz Eduardo Rocha Paiva zweifelte sogar öffentlich daran, dass die Präsidentin in Folterkellern gequält wurde, obwohl sie nachweislich wochenlang mit Schlägen und Elektroschocks traktiert wurde und drei Jahre hinter Gittern saß. "Die Folterknechte verstecken sich wie Ratten", wetterte Alípio Freire, Rita Sipahis Mann, der ebenfalls gemartert worden war.

Doch findige Juristen haben eine Lücke in dem Amnestiegesetz entdeckt: Entführungen und das Verschwindenlassen von Diktatur-Gegnern sind von den Paragraphen nicht abgedeckt. So erhob die Staatsanwaltschaft vor einigen Tagen erstmals Anklage gegen einen der Diktatur-Offiziere. Sebastião Curió Rodrigues de Moura wird vorgeworfen, 1974 fünf Guerilleros gekidnappt zu haben. Keiner von ihnen tauchte je wieder auf. Menschenrechtler applaudieren. "Erstmals gibt es Justiz und einen Übergang in Brasilien", hofft Rose Nogueira, Vorsitzende der Vereinigung Nie mehr Folter. Auch sie war mit Dilma Rousseff und Rita Sipahi eingesperrt, "wir haben uns der Tyrannei widersetzt". Rita Sipahi sagt es so: "Die Wahrheitskommission legt den Finger in die Wunde. Wer schweigt, für den geht die Folter weiter."

© SZ vom 17.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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