Atomausstieg in Deutschland:Die notwendige Wende

Industriekonzerne kritisieren die Entscheidung der schwarz-gelben Regierung für einen Atomausstieg. Dabei ist es Zeit, das Ende der Kernkraft als Chance zu begreifen, und nicht als Verlust. Der Ausstieg bietet enorme Möglichkeiten, wenn er als Umstieg verstanden wird - als Einstieg in das potentiell auch ökonomisch lohnende Solarzeitalter.

Patrick Illinger

Die Reaktion war erwartbar: Die Chefs der deutschen Industriekonzerne, insbesondere der Stromversorger, nörgeln an der Entscheidung der schwarz-gelben Koalition für einen beschleunigten Atomausstieg herum wie Kinder, die nicht auf einen Wandertag mitgehen wollen. Das haben sie schon vor dem Beschluss getan, und das werden sie wohl noch eine Weile lang tun. So lange, bis auch die mit Quartalszahlen sozialisierten Firmenlenker begreifen, welch riesige Chancen sich in einer Welt bieten, in der man als first mover auf regenerative Energie gesetzt hat und deshalb bei der zugrundeliegenden Technologie der Marktführer ist.

Koalition beschliesst Atomausstieg bis 2022

Reaktor in Neckarwestheim: Gegen die Kernkraft sprach schon vor Fukushima viel mehr als nur die Sorge vor einem GAU.

(Foto: dapd)

Bloß keine Veränderung - das ist nicht nur ein urmenschlicher Instinkt, es ist auch die Haltung der seit Jahren von bequemen Energiepreisen verwöhnten deutschen Industrie. Die sich über Jahre akkumulierenden Risiken werden dabei gerne verdrängt. Schon ist sie wieder zu hören, die unsägliche Phrase vom "bezahlbaren Strom", als habe die Politik für unbezahlbaren Strom votiert. Und wenn die Chefs von Autokonzernen plötzlich mit der Klimafreundlichkeit der Kernkraft argumentieren, dann steigt ein übler Geruch von Heuchelei auf, gemessen daran, wie die gleichen Firmen einst Katalysatoren verhinderten und die ersten Hybridfahrzeuge aus Japan verspotteten.

Es stimmt schon: Viel Emotion war im Spiel in den Wochen nach dem Unglück von Fukushima - Emotion, die über Nacht manchen Kernkraftfreund auf befremdliche Weise zum Ausstiegsfanatiker werden ließ. Dabei ist Angst, und auch das Kalkül mit der Angst anderer, bekanntermaßen kein guter Ratgeber. Zumal wenn es um die Zukunft der viertgrößten Industrienation der Welt geht. Doch manchmal kann auch ein Bauchgefühl den richtigen Weg weisen. Gegen die Kernkraft sprach schon vor Fukushima viel mehr als nur die Sorge vor einem GAU. Die Frage der Endlagerung radioaktiven Mülls ist ungeklärt wie eh und je, und weil zivile Nukleartechnik jederzeit auch waffentaugliches Spaltmaterial liefern kann, sollte sich kein Kernkraftbefürworter über Atomarsenale in Pakistan, Iran und künftig vielleicht auch in Syrien oder Venezuela wundern.

Nach dem - vergleichsweise - klaren Koalitionsbeschluss vom Wochenende ist es Zeit, das Ende der Kernkraft in Deutschland als Chance zu begreifen, und nicht nur als Verlust, als Gift für die Industrie oder als bizarren Alleingang inmitten einer von Atomreaktoren befeuerten Weltwirtschaft. Der Ausstieg bietet enorme Chancen, wenn er als Umstieg verstanden wird, ja als Einstieg in das potentiell auch ökonomisch lohnende Solarzeitalter. Wenn es richtig angepackt wird, bildet Deutschland die Avantgarde bei einer Wende, die jede Nation der Erde aufgrund der Beschränktheit dieses Planeten irgendwann vollziehen muss. Eine Wende, die am Ende nicht nur Schluss macht mit deutschen Atommeilern, sondern überhaupt mit rohstoff-verbrauchender Energie.

Angesichts der Größe der Aufgabe wirkt es fast lächerlich, wenn Politiker nun darüber zanken, ob drei der Kernkraftwerke womöglich bis 2022 statt bis 2021 laufen dürfen. Und ob vielleicht ein Meiler als "kalte Reserve" erhalten bleiben soll (wobei unklar ist, wie das funktionieren könnte).

Offen gesagt: Das exakte Ausstiegsdatum ist weniger wichtig als die begleitenden, viel größeren Aufgaben. Deutschland muss den eigenen Energieverbrauch nun effizienter gestalten und den bereits stattlichen Anteil regenerativer Energie weiter erhöhen. Dabei geht es keineswegs um erzwungenen Verzicht oder grüne Wollpullover-Ideologie, sondern um moderne Hochtechnologie.

Künstliche Seen mit Windrotoren? Wieso nicht?

Mit fast 18 Prozent Ökostrom liegt Deutschland bereits heute vor vielen anderen entwickelten Ländern. Sollte der Anteil steigen wie in den vergangenen Jahren, wird sich der Wegfall der Kernkraftwerke in der angestrebten Dekade bis 2021 ausgleichen lassen. Zumal wenn das Bewusstsein für effizienten Energieverbrauch in Haushalten und Fabriken steigt. Zweifellos bleiben gewaltige Herausforderungen. Zum Beispiel wird die Stromerzeugung aufgrund der wechselnden Windstärken und der oft sonnenarmen Tage in Deutschland stark schwanken. Neue Infrastruktur, die Strom zwischenspeichert und intelligent verteilt, ist daher nötig.

Mit Hochdruck arbeiten Ingenieure bereits an smart grids, engmaschigen Stromnetzen, die Energie effizient und punktgenau von den Quellen zu den Verbrauchern bringen. Einige Techniken zum kurzfristigen Zwischenspeichern von Energie muten derzeit noch bizarr an: künstliche Badeseen zum Beispiel, die je nach Wasserstand Energie aus Windrotoren aufnehmen oder abgeben. Andererseits: Wieso nicht? War es früher nicht das Markenzeichen deutscher Ingenieurskunst, dass man Verrücktes erdachte, und manches davon tatsächlich realisierte?

Die deutschen Stromversorger werden weiter dafür kämpfen, ihre Kernkraftwerke als billige Arbeitspferde zu behalten. Manche Kostenrechnung, die jetzt für den Ausstieg aus der Kernenergie präsentiert wird, ist jedoch reine Angstmacherei. Die Chancen, die ein so oder so kommendes solares Zeitalter bietet, sollte niemand arglistig verschweigen.

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