Afghanistan:Für jeden ein neues Leben

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Zwei Schicksale aus Kundus: Hassina Sarwari ist auf dem Sprung nach Deutschland, auf der Flucht vor den Taliban. Und auch für Shukrullah ist alles anders, seitdem Bomben seine Klinik trafen.

Von Stefan Klein, Kabul

Hassina Sarwari, 34, hat es fast geschafft. Die Visa für sie und ihre Familie liegen bereit, der Flug nach Deutschland ist gebucht. Eine "unmoralische Schlampe" haben die Taliban sie genannt und bedauert, dass es ihnen nicht gelungen ist, sie zu fassen und im Stadtzentrum von Kundus aufzuhängen.

Shukrullah, 25, dessen wahrer Name ein anderer ist, dachte: Wer um Himmels willen schmeißt Bomben auf ein Krankenhaus? Er, der Krankenpfleger, war sich sicher, dass er das Inferno nicht überleben würde, doch er ist davongekommen. Mit leichten Verletzungen und einem schweren Trauma. Er sagt: "Vielleicht war meine Zeit noch nicht abgelaufen."

Beide, Hassina Sarwari und Shukrullah, stehen für den Tiefpunkt in der bisherigen Amtszeit des afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani. Er war erreicht, als die nordafghanische Stadt Kundus im Herbst vorigen Jahres für zwei Wochen in die Hände der radikalislamischen Taliban fiel. Landgewinne durch die Gotteskrieger vor allem im Süden ist man in Afghanistan seit Langem gewöhnt, doch dies war das erste Mal seit ihrer Vertreibung von der Macht, dass eine große Stadt unter ihre, wenn auch nur vorübergehende, Kontrolle geriet.

Die Afghanen bekamen statt einer tatkräftigen Regierung ein Auto mit zwei Fahrern

Der Fall von Kundus ist nicht die einzige Enttäuschung, die sich am Namen Ashraf Ghani festmacht. Nach den von Korruption und Reformunwilligkeit geprägten Jahren seines Vorgängers Hamid Karsai hatte das Land einen neuen Aufbruch erwartet; dies umso mehr als Ghani selber hohe Erwartungen geschürt hatte. Doch als nach der von Manipulationsvorwürfen überschatteten Wahl Ghani und sein Rivale Abdullah Abdullah endlich einen Deal ausgehandelt hatten, da bekamen die Afghanen statt einer tatkräftigen Regierung ein, wie gespottet wurde, Auto mit zwei Fahrern.

Man misstraut und belauert sich, kämpft um Einfluss und um Posten, und weil man sich selten einig ist, sind fast zwei Jahre nach der Wahl Schlüsselpositionen immer noch nicht besetzt. Selbst der Verteidigungsminister amtiert nur geschäftsführend. Auf einer Linie ist man noch nicht mal in der Schicksalsfrage des Landes. Ghani hat bei seinem Versuch, Friedensgespräche in Gang zu bringen, all sein politisches Kapital auf den Nachbarn Pakistan gesetzt, der als Sponsor der Taliban gilt - Abdullah dagegen steht am Rande und wartet ab.

Ohne Fortschritte in der Friedensfrage droht ein ähnlich blutiges Jahr wie das vorige, als die Rebellion ein Ausmaß erreichte wie noch nie in den vergangenen zehn Jahren. Es erwies sich, dass nach dem weitgehenden Abzug der internationalen Schutztruppe Isaf die afghanischen Sicherheitskräfte noch längst nicht in der Lage sind, die ihr zugedachte Rolle auszufüllen. Von über hundert Infanteriebataillonen gelten gerade mal zehn Prozent als fähig. Hinzu kommt, dass die hohe Zahl an Toten (2015: 6000), Verletzten (12000) und Deserteuren die Truppe erheblich dezimiert hat. Ein Drittel wird man ersetzen müssen.

Kundus, Afghanistan: Ein Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" steht in den Trümmern der bombardierten Klinik. (Foto: Najim Rahim/AP)

Konnte man sich in den Jahren davor in brenzligen Situationen stets auf Kampfflugzeuge und - hubschrauber der Isaf verlassen, so ist auch da eine große Lücke entstanden. Luftunterstützung wird nur noch in Ausnahmefällen gewährt, eine eigene afghanische Luftwaffe ist aber noch im Aufbau. Die ersten Flugzeuge und Helikopter sind zwar eingetroffen, bis sie jedoch über Präzisionsbomben verfügen und afghanische Piloten diese auch einzusetzen wissen, dürften noch Jahre vergehen.

Den Aufständischen hat das die Möglichkeit verschafft, anders als in der Vergangenheit massierter aufzutreten, so wie im Herbst bei der Einnahme von Kundus. Ermöglicht wurde die freilich auch durch das fatale Signal, das von dem ungleichen und allzu oft gegeneinander arbeitenden Führungsgespann in Kabul ausging. Gegenseitiges Misstrauen, Führungsschwäche, Mangel an Klarheit, das alles sickerte von oben bis hinunter auf die regionalen und lokalen Ebenen und schuf dort Verwirrung in einem Ausmaß, dass trotz einer Vielzahl frühzeitiger Warnzeichen die Taliban in Kundus letztlich leichtes Spiel hatten. So schildert es im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung der frühere Geheimdienstchef Amrullah Saleh, der im Auftrag der Regierung die Vorgänge in der Stadt untersucht hat.

Wo bis zur kurzem die Bundeswehr als Teil der Schutztruppe ein großes Feldlager betrieb, ist heute eine verwundete, geschockte Stadt, in der nach Sonnenuntergang kaum einer auf die Straße geht. Hassina Sarwari sowieso nicht, sie wartet in Kabul auf ihre Ausreise und sagt, in ihre Heimatstadt werde sie nicht mehr zurückkehren. Zu schlimm, was sie hinter sich hat, zu groß das Risiko, dass die Taliban sie doch noch erwischen. Sie hatte sich in Kundus um misshandelte Frauen gekümmert und um die Kinder von weiblichen Häftlingen. Das war mutig, denn genau solche Frauen sind in den Augen bigotter Islamisten nicht Opfer, sondern strafenswerte Täter.

Am Ende aber war Hassina Sarwari todesmutig. Da nämlich hat sie die neun Frauen aus dem Frauenhaus und 13 Kinder vor den Taliban gerettet und aus der Stadt gebracht. Während die Taliban schon nach ihr suchten und sie allen Grund hatte, um ihr Leben zu fürchten, hatte Hassina Sarwari noch die Nerven und das Herz, nicht nur an sich und ihre Familie, sondern auch an ihre Schutzbefohlenen zu denken. Vor allem die Frauen hätten von den neuen Herren in der Stadt Schlimmes zu erwarten gehabt, aber Frau Sarwari kam dem zuvor. Sie organisierte vier Autos für die Flucht in eine Nachbarprovinz, und von dort ging es dann mit zwei Flugzeugen der UN nach Kabul.

Shukrullah lebt weiter in Kundus, aber es ist nicht mehr das Leben, das er kannte und mochte. Es war das Leben eines Krankenpflegers in einem Krankenhaus, das von der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" betrieben wurde. 400 Dollar im Monat, kein übermäßiger Stress, doch das änderte sich, als die Armee daran ging, die von den Taliban besetzte Stadt zurückzuerobern. Es kam zu heftigen Kämpfen, und immer mehr Verletzte wurden ins Hospital eingeliefert. Irgendwann in der Nacht zum 3. Oktober legte sich Shukrullah zwischen zwei Schichten erschöpft schlafen, da hörte er Explosionen. Er wachte auf, und dann war nur noch Chaos.

Hassina Sarwari mit ihrer Tochter in Kabul; sie betrieb ein Frauenhaus und wurde deshalb von den Taliban bedroht. (Foto: Regina Schmeken)

Shukrullah sah seinen Onkel, einen Chirurgen, im Blut liegen, er sah Menschen brennen wie Fackeln, er sah zerschmetterte Körper ohne Gliedmaßen, er hörte Hilfeschreie und rettete sich durch einen Sprung aus dem Fenster des brennenden Labors, gerade als hinter ihm die Decke herunter krachte. Über eine Stunde dauerte das Bombardement, 42 Menschen sterben, bis heute ist nicht geklärt, wie es zu dem tödlichen Irrtum eines amerikanischen Kampfflugzeuges kam, nachdem zuvor US-Spezialkräfte in Kundus Luftunterstützung angefordert hatten.

Die Schreckensbilder gehen nicht aus dem Kopf, auch nicht die Geräusche der Geschosse

Shukrullahs Verletzungen sind verheilt, die äußeren. Aber er bekommt die Schreckensbilder nicht aus dem Kopf, nicht die Geräusche der einschlagenden Geschosse. Der Film läuft immer wieder ab und lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Er müsste sich nach einem neuen Job umsehen, er hat ja drei kleine Kinder, aber Shukrullah sagt, er sei dazu nicht in der Lage. Er hat registriert, dass Barack Obama sich bei "Ärzte ohne Grenzen" entschuldigt hat, aber das, findet Shukrullah, sei nicht genug. Eine Entschädigung sei das Mindeste.

So wirkt alles noch nach, was passiert ist in Kundus, und es ist noch nicht zu Ende. Die Taliban haben sich ja nur ein Stück zurückgezogen, im Umkreis der Stadt sind sie nach wie vor präsent. Die Frühjahrsoffensive, von der sie in Kundus wispern, könnte die Stadt erneut in Bedrängnis bringen. Shukrullah mag sich das nicht vorstellen. Hassina Sarwari muss es nicht mehr kümmern, alles, was sie in Kundus hatte, wurde geplündert und zerstört. Und die Regierung? Amrullah Saleh sagt: "Viele große Worte, wenig Taten."

Es gebe viel zu lernen aus dem Fall von Kundus, sagt Saleh, und er habe in seinem Untersuchungsbericht eine Reihe von Empfehlungen gegeben - "aber ich vermute, die hat man längst beerdigt."

© SZ vom 27.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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