Afghanistan:Abkehr von der Abkehr

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Die USA bleiben doch länger in Afghanistan als geplant. Für das talibangeplagte Land ist das ein Segen, den Deutschen hilft es mit ihrem Flüchtlingsproblem. Obama macht die Entscheidung noch lange nicht zum Interventionisten.

Von Stefan Kornelius

Barack Obama stand schon lange Zeit in der Gefahr, dass er Opfer seines eigenen Dogmas werden könnte: Den Abzug aus allen amerikanischen Kriegseinsätzen bis zum Ende seiner Amtszeit hatte er versprochen - und dieses Versprechen würde er halten, komme, was da wolle. Es kam allerhand, weshalb sich der Präsident jetzt den gegenteiligen Vorwurf gefallen lassen muss: Es war Amerikas bedingungsloser Rückzug von den Weltkrisen, der diese außer Kontrolle geraten ließ. Der halbherzige Einsatz in Libyen, der Abzug aus dem Irak, die Abwendung von Europa und der Rückzug aus Afghanistan: Amerikas Abkehr hat Platz gemacht für die Falschen und nirgendwo zur Stabilität beigetragen.

Nun, auf den letzten Metern seiner Präsidentschaft, korrigiert Obama diesen Grundsatz. Die USA werden nicht wie geplant aus Afghanistan abziehen, sondern mit zunächst 9800 Mann im Land bleiben. Der spektakuläre Kurswechsel ist untypisch für diesen Präsidenten. Er kam nur unter massivem Druck des eigenen Militärs, des Kongresses und nicht zuletzt der Verbündeten, besonders auch Deutschlands, zustande. Und er ist richtig.

Die USA bleiben in Afghanistan - das hilft auch den Europäern

Für die afghanische Regierung und das talibanmüde Volk keimt nun ein wenig Hoffnung auf. Zwei Wochen Kundus-Besetzung durch die Bärtigen haben einen horrenden Ausblick darauf geliefert, was dem Land binnen kürzester Zeit bevorstehen könnte. Die sprunghaft steigende Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Deutschland sind der spürbare Beleg für die grassierende Angst. Die Menschen kommen nicht, weil Angela Merkel gerne auf Selfies auftaucht, sondern weil die Mädchenschule in Kundus zerstört und jede halbwegs modern erscheinende Struktur bedroht oder gleich verbrannt wurde.

Als Obama 2008 ins Amt kam, waren die USA müde von der Welt und wollten sich ihren inneren Problemen zuwenden. Obama hatte diese Stimmung im Wahlkampf genutzt und wurde für seinen Polititikschwenk mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Jetzt zeigt sich, dass sein Land nicht unbedingt davon profitiert, wenn es in außenpolitischer Selbstbeschränkung verharrt, zumal sich die meisten Afghanistan-Kenner einig waren, dass die lokalen Sicherheitskräfte mit ihrer Aufgabe noch jahrelang überfordert sein würden. Amerikas Afghanistan-Präsenz ist nicht nur ein psychologischer Kniff, sondern eine praktische Notwendigkeit.

Obama wird durch diese Entscheidung nicht zum Interventionisten. Sein außenpolitischer Nachlass ist angelegt - Iran, Kuba, China. Die Selbstbeschränkung der Supermacht wird die Kernbotschaft seiner Präsidentschaft bleiben. Die Kehrtwende in Afghanistan aber steht für eine wichtige Lehre in dieser interventionsmüden Zeit: Die Weltkrisen lassen sich nicht immer von Dogmen leiten. Jede Krise hat ihre eigene Regel, und Pragmatismus war schon immer die kleine Schwester des Realismus. Die Deutschen lernen diese Lektion gerade im Eiltempo in der Flüchtlingskrise. Gerade in dieser Krise hat Obama den Europäern nun einen Dienst erwiesen.

© SZ vom 16.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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