Ägypten:Ungesühntes Massaker

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Mehr als 800 Menschen starben vor fünf Jahren auf dem Rabaa-Platz. Bestraft wird für das Massaker niemand. So will es der Präsident, ein wahrer Meister der Geschichtsklitterung.

Von Tomas Avenarius

Das Geheimnis erfolgreicher Geschichtsklitterung besteht darin, halbe oder ganze Unwahrheiten so lange zu wiederholen, bis sie in den Augen und Ohren der Betroffenen halbwegs zu Wahrheiten werden. Zeigen lässt sich dies am Beispiel Ägypten. Dort ist aus einer angestaubten Autokratie eine ziemlich lupenreine Militärdiktatur geworden, die sich selbst Demokratie nennt. Zur Erinnerung: Am Nil wurde im Zuge des arabischen Aufstands von 2011 ein alternder Ex-General vom Volk gestürzt, dann ein politisch unfähiger Islamist vom selben Volk zum Staatschef gewählt und dieser ein Jahr später vom Militär - wieder unter Berufung auf dasselbe Volk - mit Gewalt entmachtet.

Der ägyptische Zirkelschluss steht für das Scheitern des ersten großen demokratischen Gehversuchs im Land. Hört man dagegen den vom Feldmarschall zum gewählten Präsidenten aufgestiegenen Machthaber Abdel Fattah al-Sisi reden, dann steht der Gedankenkreisel für das genaue Gegenteil: die Vollendung des demokratischen Experiments. Und fragt man das nach wie vor selbe Volk, werden bis heute auch sehr viele Ägypter ihrem neuen Präsidenten recht geben.

Insofern sollte sich niemand wundern, dass das Parlament nun ein Gesetz auf den Weg bringt, welches den für die Massaker an den Anhängern des islamistischen Präsidenten Mursi verantwortlichen Armee- und Polizeioffizieren indirekt Straffreiheit verschafft. Das ist ganz in Sisis Sinn: Die Legitimität seiner Macht beruht auch darauf, dass seine Machtergreifung im Sommer 2013 kein Staatsstreich war, sondern ein notgedrungen gewaltsamer Machtwechsel auf Volkswunsch, eine von größter nationaler Zustimmung getragene Kurskorrektur also. Klagen und Ermittlungen gegen schießwütige Offiziere passen nicht in das Heldengemälde.

Aller Voraussicht nach wird also in Kairo kein Uniformierter und kein Politiker je Verantwortung dafür tragen müssen, dass mindestens 817 Menschen zusammengeschossen wurden; die Verletzten hat keiner gezählt, die Inhaftierten auch nicht, geschweige denn die in den Gefängnissen zu Tode gefolterten Islamisten. Der Angriff auf das Sit-In am Rabaa-Platz, mit Panzerwagen, Scharfschützen und schwerem Räumgerät, war schlicht ein Massaker, auch wenn mehrere Uniformierte starben. Die offizielle Erklärung, man habe im abgefackelten Protestlager 15 Waffen sichergestellt, beantwortet die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel: 817 Tote, 15 Waffen - wie viele Muslimbrüder können da wann und wie oft geschossen haben?

Das Sit-in war eine Art von zivilem Widerstand gegen den vom Militär, Polizei, Geheimdienst und Establishment von langer Hand vorbereiteten Sturz eines gewählten Staatschefs. Der wird nicht dadurch besser, dass jeder Ägypter die Unfähigkeit Mursis sehen konnte und seine Muslimbrüder keine echte Demokraten waren: Gewählt ist gewählt.

Das Rabaa-Massaker kümmert die Europäer nur noch wenig. Die Macht des Faktischen, die Stabilität im wichtigsten Land Nordafrikas, die Rolle Kairos im Flüchtlingsdrama am Mittelmeer - welche Regierung wird sich mit dem Ägypter anlegen wegen Ereignissen, die fünf Jahre zurückliegen? Auch wenn Sisi als Präsident kaum belastbare Erfolge vorweisen kann - beim Klittern der Geschichte hat er sich als Meister erwiesen.

© SZ vom 18.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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