Abtreibung:Erst der Mensch, dann das Prinzip

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Endlich nimmt ein Papst die existenzielle Not vieler Frauen ernst. Endlich ist ein Papst nicht mehr so auf die Sünde und das absolut Böse fixiert wie seine Vorgänger.

Von Matthias Drobinski

Abtreibung ist ein Tabu. Keiner redet gerne über das unlösbare Dilemma zwischen dem Recht der Frau und dem des ungeborenen Kindes. Auch nicht über die Not der alleingelassenen Frauen, über ihre seelischen Probleme nach einer Abtreibung, nicht über die reichen Gesellschaften, in denen ein Kind trotzdem ein Armuts- und Karriererisiko bleibt, nicht über jene vielen Länder, in denen Vergewaltigung geradezu üblich ist. Zum Glück können heute Frauen abtreiben, ohne das Gefängnis oder den Tod beim Kurpfuscher fürchten zu müssen. Zum Glück aber hält kaum noch jemand eine Abtreibung für einen Ausdruck von Emanzipation und Selbstverwirklichung.

Die katholische Kirche hat sich hier klar auf die Seite des ungeborenen Lebens gestellt. Sie prangert zu Recht an, dass es so viele Abtreibungen gibt. Sie hat sich aber dabei furchtbar verrannt. Sie hat sich auf die Sünde fixiert, sie als das absolut Böse übersteigert, nach Kräften exkommuniziert und das Prinzip hochgehalten. Sie ist darüber unempfindlich geworden für die Brüche und Grauzonen des Lebens, sie hat zu oft darüber die Menschen vergessen, die Seelsorge brauchen und keinen, der das abschließende Urteil über sie spricht.

Endlich nimmt ein Papst die Not vieler Frauen ernst

Das Prinzip steht vor dem Menschen: Deshalb mussten vor 15 Jahren die deutschen Bischöfe auf Geheiß von Papst Johannes Paul II. aus der staatlichen Konfliktberatung aussteigen; dass diese Beratung viele Frauen ermutigte, ihr Kind zu bekommen, zählte weniger, als dass diese Beratung eine straffreie Abtreibung möglich machte. Aus diesem Prinzip heraus bekommen in vielen Ländern Frauen, die in ihrer Gewissensnot eine Abtreibung beichten, keine Absolution vom Priester, sondern werden an den Bischof verwiesen.

Papst Franziskus hat nun zum Heiligen Jahr eine kleine Änderung mit großen Folge vorgenommen: Ein Jahr lang sollen auch Priester Frauen, die abgetrieben haben, von ihrer Sünde lossprechen. Das klingt zunächst geradezu kurios - die Begründung für diesen Schritt aber zeigt: Der Papst dreht hier das bisherige Verhältnis von Mensch und Prinzip um. Das Prinzip wird nicht über den Haufen geworfen, aber zuerst kommt der Mensch mit all dem Menschlichen, dass er so mit sich herumschleppt. Aus vielen Gesprächen wisse er, in welche existenzielle Not Frauen die Entscheidung für eine Abtreibung bringe, schreibt der Papst. So klang vor 15 Jahren auch der Limburger Bischof Franz Kamp-haus, als er tapfer erklärte, warum er nicht aus der Schwangerenberatung aussteigen wolle. Damals trafen die Argumente in Rom auf taube Ohren. Nun macht Franziskus sie sich zu eigen.

Der Papst hat ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen, und er scheint es ernst zu meinen mit dieser Barmherzigkeit: Grundsätze sind um der Menschen willen da. Dass der Papst im selben Brief zur Überraschung aller auch die Beichte der traditionalistischen Piusbruderschaft für gültig erklärt, zeigt einen weiteren Aspekt dieser Barmherzigkeit: Sie ist immer auch anarchisch.

© SZ vom 03.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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