Wiedervereinigung:Was der Besserwessi über Zonen-Gaby wissen sollte

Wiedervereinigung: Die SZ-Version der "Zonen-Gaby", inspiriert vom legendären Cover des Satiremagazins Titanic aus dem Jahr 1989.

Die SZ-Version der "Zonen-Gaby", inspiriert vom legendären Cover des Satiremagazins Titanic aus dem Jahr 1989.

(Foto: Natalie Neomi Isser; Titanic; Bearbeitung SZ)

Der Präsident der Kultusministerkonferenz will einen innerdeutschen Schüleraustausch. Brauchen wir das wirklich? Und wenn ja, was heißt das für die Beteiligten? Ein paar Tipps.

Von Ulrike Nimz und Hannes Vollmuth

Es ist eines der größten Abenteuer im Leben eines jungen Menschen: der kollektive Ausflug in die Fremde, der Schüleraustausch. Es gilt kulinarische Mutproben zu überleben, peinliche Begrüßungsrituale, Flirtversuche der ungelenken Art und den bitteren, aber unvermeidlichen Abschiedsschmerz. Am Ende kehrt man erschöpft, aber zweifellos reifer nach Hause zurück, lässt sich siegestrunken in den Sessel fallen und sagt: Mama, ich hab die Welt gesehen!

Es ist nicht bekannt, ob Helmut Holter, Linkenpolitiker in Thüringen und seit Neuestem Präsident der Kultusministerkonferenz, eine derart bewegende interkulturelle Erfahrung im Kopf hatte, als er in der vergangenen Woche seine erste Forderung in den Raum stellte: "Wir brauchen nicht nur Schülerprojekte im Austausch mit Polen oder Frankreich, sondern auch zwischen Leipzig und Stuttgart."

Und es muss sich noch zeigen, ob dieses deutsch-deutsche Rübermachen jemals Realität werden wird. Gerüstet sollte man dennoch sein. Es folgt ein passgenauer Schüleraustausch-Knigge von zweien, die auch mal eine Schule besucht haben - in Ost und West.

1. Begrüßen

Im Westen: Begrüßung, das kann der Wessi (siehe Begrüßungsgeld). Nur die Ost-Marotte mit dem Händeschütteln stürzt ihn in tiefe Verwirrung. Vermutlich ist ihm die Geste zu distanziert. Inzwischen umarmt und küsst man im Westen des Landes nämlich alles und jeden. Wobei auch euphorisches Herzen nicht heißen muss, dass man dich mag. Und weil der erste Eindruck zählt, noch ein Hinweis zum Begrüßungs-Smalltalk: Meide Themen wie die AfD, den Soli, und frag vor allem nicht, warum zur Hölle man 28 Jahre nach dem Mauerfall in "den Westen" zum Schüleraustausch fahren soll. Ist das nicht einfach nur eine Himmelsrichtung?!

Im Osten: Ja, es gibt Statistiken, die belegen, dass die Menschen im Osten Deutschlands einander häufiger die Hände reichen als anderswo. Die Gründe für diese Form der Förmlichkeit sind ungewiss: Vielleicht ein Nachhall aus Zeiten sozialistischen Überschwangs, als man sich beim Fahnenappell noch mit eingefrorenem Lächeln "Freundschaft!" entgegenschmetterte. Vielleicht auch nur gute Manieren. In einigen Regionen des Ostens wiederum werden Ortsfremde durch ausdauerndes Starren begrüßt. Oft hilft in einer solchen Situation ein beherztes "Glück auf!". Manchmal auch nur Glück. In den meisten Fällen aber grüßen sich junge Menschen hier wie überall: "Alder, was geht!"

2. Schenken

Im Westen: Der kapitalistische Westen hat in den letzten Wohlstandsjahrzehnten dermaßen viel Plunder angehäuft, dass man jetzt sein Heil im Minimalismus sucht. Trendy sind Häuser mit weißen Wänden und einzeln ausgewählten, aber sündhaft teuren Designer-Tischen und -stühlen (Kopenhagen!), was durchaus Auswirkungen auf die Wahl deines Gastgeschenkes hat: Bloß keinen Staubfänger mitbringen, besser auf Verkostbares setzen. Wie wäre es mit einem trockenen Spätburgunder von Rotkäppchen? Oder Spreewaldgurken? Wenn du deinen westdeutschen Gasteltern aber eine richtige Freude machen willst, kauf am besten einen Grünen Veltliner aus dem Burgenland. Der hat zwar nichts mehr mit dem Osten zu tun, was aus Wessi-Perspektive aber kein Nachteil sein muss.

Im Osten: Haribo, Matchbox-Autos, Anleitungen zum Tunnelbau: Was sich im sogenannten Westpaket befand, das wohlmeinende Menschen aus der BRD in die DDR schickten, um die Verwandtschaft im verplanten Teil Deutschlands am bunten Warenzauber teilhaben zu lassen, ließ auch Kinderherzen höher schlagen. Noch heute gilt: Als Geschenk überreicht man Altersgenossen idealerweise Dinge, die sie sich nicht selbst kaufen können. Unter Minderjährigen sind das: regionale Alkoholika aus der hintersten Reihe der elterlichen Anbauwand, abgefüllt lange vor der deutschen Teilung.

Fast Food, wie es sich für den Amerika-versauten Westen gehört

3. Essen

Im Westen: Wie es sich für den Amerika-versauten Westen gehört, kannst du dich als Ost-Schülerin auf edles Fast Food einstellen. Keine Wessi-Kleinstadt ohne High-End-Burgerbude. Dazu Quinoa-Chips und Avocado-Chia-Salat; wenn du Glück (oder Pech) hast, wird zum Nachtisch Espresso-Cheesecake gereicht. Die Sushi-Zeiten sind vorbei. Und die Tomaten-Mozzarella-Epoche erst recht. Wie das Robert-Koch-Institut festgestellt hat, sind die Essgewohnheiten in Ost und West aber inzwischen nahezu gleich. Nur beim Frühstück muss man im Westen definitiv mit Müsli rechnen. Aber du hast ja kulinarisch schon den Schüleraustausch in Turku, Qingdao und Cork überlebt. Da wird Wanne-Eickel so schlimm schon nicht sein.

Im Osten: Broiler, Ketwurst, Grilletta! Das Fast Food der DDR mag exotische Namen gehabt haben, auf dem Teller lag am Ende dasselbe wie in der BRD - Brathuhn, Brühwurst, Bulette. Nach allerlei Transformationsprozessen haben Schüler zwischen Stralsund und Suhl heute auch bei Transfetten alle Freiheiten - wenn man denn die Wahl zwischen Burger King und McDonald's Freiheit nennen will. Solltest du dich doch mal in einen abgelegenen Gasthof verirren - eine DDR-Delikatesse hält sich hartnäckig auf den laminierten Speisekarten: Würzfleisch, die preisgünstige Variante von Ragout fin, mit gewürfeltem Schweine- statt Kalbsfleisch. Man isst es wie das westdeutsche Original: den Käse mit der Gabel runterhebeln, den Rest unauffällig verschwinden lassen.

4. Sprechen

Im Westen: Die gute Nachricht: Dialekte sind im Westen wieder in, was man sehr gut an der Asterix-Mundart-Reihe ablesen kann (Badisch, Pfälzisch, Schwäbisch, Fränkisch, Kölsch, etc.). Jede Menge Pluspunkte sammelst du also, wenn du als Sachse in Hessen fehlerfrei sagen kannst: "Soll isch Schlabbe anziehe?" (Soll ich Hausschuhe anziehen?), und in Schwaben: "Ghört dr Bappadeckel net en dr gelbe Sack?" (Gehört der Pappkarton nicht in den gelben Sack?). Ansonsten ist wie bei jedem gepflegten U-18-Smalltalk von L. A. bis Moskau zu erwähnen, dass die Marie aus der Parallelklasse 1400 Instagram-Follower hat, man selbst aber eher so Snapchat ist, überhaupt, was aus Facebook geworden ist, seitdem die Eltern (!) Videos (!!) von Julien Bam (!!!) posten, was sooooo peinlich ist, während man ja selbst gerade über ein Gap-Year in Costa Rica nachdenkt, wo man Schildkröten fotografieren könnte, was dann doch wieder für Instagram spräche.

Im Osten: Apropos sprechen: Sollte man generell viel mehr miteinander. Auch wenn beispielsweise das sächsische Idiom - das ist die schlechte Nachricht - noch immer nicht in ist. Darüber gibt es, genau, Statistiken. Solltest du es während deines Besuchs mit erzgebirgischem, vogtländischem oder meißnischem Slang zu tun bekommen, gibt es aber eine einfache Regel, die das Verstehen erleichtert: "Die Weechen besiechen de Hard'n" (Die Weichen besiegen die Harten). Gemeint sind Konsonanten. Wäre aber auch ein pädagogisch wertvolles Motto für die Schulhöfe in Ost und West.

5. Flirten

Im Westen: Antrieb eines jeden Schüleraustauschs ist das Flirten auf internationalem Parkett, was naturgemäß Schwierigkeiten mit sich bringt. Zu allem Übel kommt dir als annäherungswilligem Ost-Schüler im Westen mal wieder die Statistik in die Quere: Glaubt man Elitepartner.de, haben, Stand 2010, 63 Prozent der Ostdeutschen schon mal nach drüben geliebt, umgekehrt trifft das aber nur auf 33 Prozent der Wessis zu. Woran das liegt? Vielleicht am schnöseligen Besserwessi, der schon auf dem Pausenhof bewundert werden will, Bomberjacke im Goldlook trägt und eine Lomo-Kamera umhängen hat, von der er nicht mal ahnt, dass sie aus DDR-Restbeständen stammt. Aber man weiß es nicht genau. Was man weiß, ist, dass "normales" Flirten im iPhone-Westen inzwischen sowieso so gestrig wirkt wie ein Pionier-Halstuch. Tinder! Solltest du also während des Schüleraustauschs trotz aller Widrigkeiten ein West-Match erwischt haben - cool bleiben. Willy Brandt ("Wandel durch Annäherung") wäre stolz auf dich.

Im Osten: Die deutsche Teilung hat große, vor allem aber tragische Liebesgeschichten hervorgebracht: Udo Lindenberg hat sie exemplarisch in "Mädchen aus Ostberlin" besungen. Mittlerweile ist Gras über den Todesstreifen gewachsen und niemand muss "spätestens um zwölf wieder drüben sein". Das einzige, was sich heutzutage in Grenzen hält, ist der Kitzel. Wenn du den als gästelistenverwöhnter West-Pennäler wieder spüren willst, solltest du erwägen, einen Tanztempel im Ländlichen zu besuchen, in Schkeuditz, Kindelbrück, Neukalen zum Beispiel. Sie heißen "Sax", "La Rouge" oder "Disco", aber Namen spielen keine Rolle an diesem Abend, dein Alter, wenn du Glück hast, auch nicht. Der bumslaute Beat hat einen Vorteil: Man balzt hier nonverbal (siehe Punkt 4). Aus handwarmen Plaste-Bechern gibt es regionale Alkoholika, die wahlweise das Zähneputzen ersetzen ("Pfeffi") oder gleich die Freundin ("Gisela"). Es gibt ziemlich sicher Stress, weil du ortsfremd bist (siehe Punkt 1). Du wirst ziemlich sicher knutschen, weil du ortsfremd bist.

6. Verabschieden

Im Westen: Sag: "Auf Wiedersehen".

Im Osten: Sag: "Auf Wiedersehen".

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