Warum Frauen ihre Babys töten:Ungelebte Leben

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Die Fälle von Säuglingen, die von der eigenen Mutter sterben gelassen oder gar getötet werden, scheinen sich zu häufen. Doch wie kann es sein, dass eine Schwangerschaft Frauen in solche Verzweiflung stürzt?

Ralf Wiegand

Es geschieht oft dort, wo alle glauben, man passe schon gut aufeinander auf; es passiert hinter Fassaden, die aussehen, wie die Fassaden gewöhnlicher Familien eben aussehen, Stein auf Stein gemauert, sauber verklinkert, mit einem gepflegten Gärtchen davor. Ostertimke hat einige solcher Fassaden, ein Dorf ist das wie aus dem Vorabendfernsehen, jeder kennt jeden, sie sind ja kaum 300 Leute hier. Und fast alle kannten dieses Paar.

Eine Kinderschaukel vor dem Einfamilienhaus im niedersächsischen Ostertimke, in dem in dieser Woche zwei Säuglingsleichen gefunden wurden. (Foto: dpa)

Normale Ehe, ging irgendwann auseinander, Frau zog weg, 2009 war das, Mann blieb mit zwei Kindern wohnen in dem Haus. Wollte jetzt ausziehen. Räumte auf hinter der Fassade für die neuen Besitzer. Ging auf den Dachboden. Fand eine Babyleiche.

Der Mann, sagt der Stader Staatsanwalt Burkhard Vonnahme, sei "vollkommen fertig" gewesen, als er der Polizei von seiner Entdeckung berichtete. Eingewickelt in eine Plastiktüte waren die verwesten Reste eines Neugeborenen; ehe er sie fand, hatte er sie gerochen. Die Polizisten stießen dann sogar noch auf ein zweites totes Baby. Die Suche nach einem dritten toten Kind wurde am Montag abgebrochen, doch schon am Mittwoch gab es eine Spur: Anhand von Archivakten prüfen Ermittler derzeit, ob es einen Zusammenhang gibt. Medien hatten berichtet, dass die Frau schon 1988 nach dem Fund eines toten Babys auf einem Rastplatz in Verdacht geraten war. Sobald die Unterlagen vorliegen, will die Staatsanwaltschaft über das weitere Vorgehen entscheiden.

Als hätte es nie gelebt

Die Mutter, inzwischen festgenommen und geständig, behauptet, auch dieses dritte Kind, wie die beiden anderen, unbemerkt von Mann, Familie und Umwelt ausgetragen, geboren und unversorgt sterben gelassen zu haben. Sie will es irgendwo draußen versteckt haben, vor Jahren schon. Wenn es stimmt, sind die Spuren dieses Kindes verschwunden. Als hätte es nie gelebt.

Die Fälle solcher ungelebten Leben häufen sich - das ist der subjektive Eindruck, der bei Menschen entsteht, die entsprechende Chroniken lesen. Chroniken des Grauens: Drei Kinder im sächsischen Mühltroff, eingefroren in der Tiefkühltruhe (1999), nachdem sie von der Mutter erstickt worden waren. Zwei Jahre später, Thüringen, drei Kinder, erstickt, erwürgt, ertränkt von der Mutter, auf einem Feld abgelegt. Ein toter Säugling in einem Leverkusener Eisschrank, erwürgt von der Mutter (2004). Zwei einbetonierte Geschwister in Altenburg ein Jahr später. Ein anderes Baby wird 2005 mit durchschnittener Kehle im Landkreis Gifhorn gefunden, die Polizei stößt erst sechs Jahre später durch Zufall auf die Mutter. Da hatte sie schon ein weiteres Kind getötet.

Im fränkischen Baiersdorf, im sachsen-anhaltinischen Neudorf, in Hetzerath bei Trier, in Hof, Erfurt, Plauen, im mittelhessischen Langgöns und im schleswig-holsteinischen Seestermühle - überall dort sind Neugeborene gefunden worden, die nicht leben sollten. Nicht durften. Nicht konnten. Deren Mütter sie nicht leben ließen.

Bei 670.000 Geburten im Jahr, sagt Professor Gerhard Jorch, Chefarzt und Direktor der Uniklinik für Pädiatrie und Neonatologie Magdeburg, "sind das doch relativ wenige Fälle", die so eskalierten. Vor hundert oder 150 Jahren, da ist sich der Mediziner sicher, seien noch viel mehr Säuglinge nach Hausgeburten unversorgt geblieben, gestorben und unbemerkt verscharrt worden. Zu viele Mäuler, die gestopft werden wollten. Gerede, das unterbunden werden musste.

Heute jedoch, da der Wert des individuellen Lebens ganz anders geschätzt wird, würden solche Fälle natürlich skandalisiert. Auch Kriminologen und Ermittler teilen diese Auffassung: Es ist wohl eher die erhöhte Wahrnehmung als ein tatsächlicher Anstieg der Kindstötungen. Dennoch bleibt es ein Rätsel, wieso im 21. Jahrhundert in einem an sozialen Angeboten reichen Wohlstandsland wie Deutschland eine Schwangerschaft Frauen in solche Verzweiflung treiben kann, dass sie vor aller Welt - den Eltern, dem Partner, manchmal vor sich selbst - verheimlichen, ein Kind zu erwarten.

Professor Jorch kennt das Problem, er ist eine Kapazität für Frühgeburten, und viele solcher zu früh geborenen Kinder haben Mütter, die nicht zu ihrer Schwangerschaft standen und deswegen nie einen Arzt aufsuchten. "Für solche Frauen verschlechtert sich ihr Status durch die Schwangerschaft, anstatt dass das Kind für sie ein Gewinn wäre", sagt Jorch. Die Gründe dafür können vielschichtig sein, die Angst, den Job zu verlieren, die Angst, ein Seitensprung könnte auffliegen, Ablehnung durch die eigenen Eltern, die Sorge auch, sich nicht sorgen zu können.

Manche Frauen wollten dann einfach nicht wahrhaben, schwanger zu sein. Die ersten Symptome würden ignoriert, dafür jedes Anzeichen, nicht schwanger zu sein, überbewertet. Etwa Zwischenblutungen. Dann folge, so Jorch, "die Hoffnung auf eine Fehlgeburt, die ja gar nicht so selten ist", schließlich schaukele sich die Frau in eine ausweglose Situation. Irgendwann kommt es zur Geburt, die schon für eine gut vorbereitete Frau eine Belastung ist. Für verzweifelte Frauen, die sich niemandem anvertraut haben, sagt Jorch, "ist sie eine Katastrophe".

In Ostertimke, Kreis Rotenburg an der Wümme, ist die Katastrophe wahrscheinlich drei Mal passiert. Die Obduktion der beiden gefundenen Babyleichen hat ergeben, dass es lebensfähige Kinder waren. Wann sie starben, vor wie vielen Jahren, kann die Rechtsmedizin nicht klären. Die Ermittler suchen nun im Leben der heute 43-jährigen Mutter nach Erklärungen. Sie hat ein heute 18 Jahre altes Kind mit ihrem heute 47-jährigen Mann, danach habe sie die anderen Kinder bekommen und sterben lassen, behauptet sie.

Wie ist schwangeren Frauen zu helfen, die nicht schwanger sein dürfen?

"Warum konnte sie die Kinder danach nicht mehr akzeptieren?", fragt Staatsanwalt Vonnahme. Kriminalistische Kleinarbeit sei das jetzt, die Biografie der Frau zusammenzustellen, in Zeiträumen zu recherchieren, die lange zurückliegen. Sie bekam ja später noch weitere Kinder, eines mit ihrem Mann, eines mit ihrem neuen Lebensgefährten, mit dem sie zuletzt in Südniedersachsen lebte. Die Kriminalisten stehen noch am Anfang; es wird sogar noch untersucht, ob sie die Kinder tatsächlich geboren hat, und ob der Mann, der die Leichen entdeckt hat, auch wirklich der Vater ist. Die mutmaßliche Täterin, die des Totschlags beschuldigt wird, ist psychisch so stabil, dass sie in einem gewöhnlichen Gefängnis in Untersuchungshaft sitzt.

Bleibt die Frage, wie Frauen zu helfen ist, die bereits in der verhängnisvollen Falle stecken, schwanger zu sein, aber nicht schwanger sein zu dürfen. Es ist ein Dilemma. Viele dieser Frauen seien unselbständig und fänden gar nicht erst die Beratungsstellen, die sie brauchen, sagt Professor Jorch. Für ihn liegt das Problem tiefer. Er sieht in dem Statusverlust, den viele Frauen allein dadurch erleiden, dass sie ein Kind erwarten, sogar eine Ursache für die Kinderlosigkeit der Gesellschaft. "Eine Frau, die ein Kind austrägt, sollte immer die Anerkennung der Gesellschaft bekommen", sagt Jorch. Daneben müssten in schwieriger Lage Möglichkeiten wie Adoption nicht als Notlösung, sondern "als ehrenvoller Weg" beworben werden.

In Ostertimke sind das Fragen für später. Dort wollen sie die toten Babys jetzt "ordentlich bestatten", hat der Bürgermeister gesagt. Kinder ohne Namen, ohne Geburtstag. Ungelebte Leben.

© SZ vom 04.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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