USA:Was ein virales Video über Wahrheit im Internet erzählt

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"Warum schikanieren die mich?", will Keaton Jones in seinem Video wissen. Echte Tränen? (Foto: Youtube)
  • Der elfjährige Keaton Jones aus Tennessee hat mit seinem Mobbing-Video zuletzt viele Menschen im Internet gerührt.
  • Sogar Prominente solidarisierten sich mit dem Jungen, sie spendeten Geld und luden ihn ein.
  • Doch nun wirft die Geschichte Fragen auf - unter anderem nach dem Motiv der Mutter, die das Video veröffentlichte.

Jürgen Schmieder, Los Angeles

Die ersten Worte in dem 74-sekündigen Video, das derzeit viele Menschen in den sozialen Medien berührt, gehen so: "Warum schikanieren die mich? Warum gefällt es ihnen, böse zu unschuldigen Leuten zu sein?" Der elfjährige Keaton Jones aus Tennessee sagt diese Sätze, er sitzt auf dem Beifahrersitz eines Autos und erklärt seiner filmenden Mutter, wie er von Mitschülern schikaniert wird: "Sie sagen, dass ich hässlich sei und dass ich keine Freunde habe. Sie begießen mich mit Milch und stecken Schinken in meine Klamotten, sie bewerfen mich mit Brot. Ich will nicht, dass sie mir das antun - und ich will nicht, dass sie es anderen antun."

Es ist ein herzzerreißendes Video, das einen aufgewühlt zurücklässt. Nur: Was wollte Jones' Mutter Kimberly mit der Veröffentlichung erreichen? Und drei Tage nach der Veröffentlichung gibt es noch weitere Fragen: Ist Kimberly Jones womöglich gar keine fürsorgliche und liebevolle Mutter, die sich gegen Mobbing einsetzt, sondern eine geldgierige Rassistin? Ist Keaton vielleicht sogar ein Täter? Was sagt diese Geschichte über die Mechanismen der Internetöffentlichkeit aus?

Und, die wichtigste Frage: Was ist eigentlich passiert?

Es gibt da also dieses Video eines offensichtlich verzweifelten Jungen, Prominente wie Hailee Steinfeld, Justin Bieber und Jon Bon Jovi erklärten sich unter dem Twitter-Hashtag #StandWithKeaton solidarisch mit dem Jungen, der Kampfsportler Scott Holzmann lud ihn zum gemeinsamen Training ein, der Footballspieler Delanie Walker zu einer Partie der Tennessee Titans, der Schauspieler Chris Evans zur Premiere des Superhelden-Films "Avengers: Infinity War". Auf der Crowdfunding-Seite GoFundMe spendeten die Menschen mehr als 57 000 Dollar. An wen eigentlich?

Die Schule hat den Jungen wegen der Aufregung bis nach den Weihnachtsferien freigestellt

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Joseph Lam hatte die Seite eingerichtet, um Keaton Jones - nach eigenen Angaben - "eine Ausbildung an einer Universität zu ermöglichen". Die Spenden sind mittlerweile eingefroren, weil noch mehr über die Familie Keaton bekannt geworden ist als dieses Video. Kimberly Jones hatte zwei Fotos in sozialen Netzwerken veröffentlicht, die sie und ihren Sohn mit der Flagge der Konföderierten Staaten zeigen. Die ist im Süden der USA häufig zu sehen, gilt allerdings als rassistisches Symbol. Kimberly Jones verunglimpft in ihrem Eintrag mit diesem Bild all jene, die mit dieser Flagge nicht viel anfangen können.

Zudem behauptet der Kampfsportler Joe Schilling jetzt auch, dass er die Familie in einem sozialen Netzwerk kontaktiert habe, um sie zu einem Kampf in Los Angeles einzuladen. "Ich komme mir gerade ziemlich verarscht vor", sagt er, "die Mutter will nur Geld haben. Sie wies mich zurück und wollte, dass ich Werbung für die Crowdfunding-Seite mache, weil das Geld gerade knapp sei. Das ist traurig."

Joe Schilling will mittlerweile herausgefunden haben, dass er einer Betrügerin aufgesessen ist, die sich als Jones ausgegeben hatte, um in der Verwirrung um das Video ein bisschen Geld abzuzocken - sowohl der Account in dem sozialen Netzwerk, als auch die zweite Crowdfunding-Seite sind gesperrt. Einige Eltern der Horace Maynard Middle School, die Keaton Jones besucht, behaupteten in einem Internet-Forum, dass Jones seine Mitschüler rassistisch beleidigt und sich dadurch selbst ausgegrenzt habe.

Es hat da also eine Empathie-Welle gegeben, die mit Hilfe von Prominenten immer größer wurde. Es passiert heutzutage häufig, dass Dinge ungefiltert und ungeprüft veröffentlicht werden und dann plötzlich als Fakten gelten. Viele haben sich jetzt von dieser Welle distanziert. Und eine neue Welle provoziert. Es wird nun also in alle möglichen Richtungen ausgeteilt und jede neue Meldung als Bestätigung der eigenen Meinung interpretiert.

Die Berichte über möglicherweise rassistische Aussagen von Keaton Jones haben sich bislang nicht bestätigt. "Ich darf Ihnen aus Rücksicht auf die Privatsphäre der Beteiligten nicht sagen, was passiert ist", sagt Greg Clay, Rektor von Jones' Schule, am Telefon: "Es war aber nicht so schlimm, wie es im Video dargestellt wird - und ich kann Ihnen versichern, dass es Konsequenzen für die Beteiligten gegeben hat." Jones sei wegen der Aufregung bis nach den Weihnachtsferien freigestellt, es werde zudem Kurse gegen Hänseleien und Schikanen geben.

Währenddessen geistern alle Vorhaltungen, Vorwürfe und Verurteilungen durchs Netz. Falschmeldungen werden nicht oder mit Verspätung richtig gestellt. Es geht längst nicht mehr um das sogenannte Bullying, also Mobbing, sondern es geht darum, sich moralisch auf der richtigen Seite zu sehen. "Ich bin keine Rassistin", sagt Kimberly Jones auf die Vorwürfe. "Die Fotos waren ironisch und lustig gemeint." Es gibt sehr viele, die anderer Meinung sind.

Bleibt noch die Frage, warum dieses Video veröffentlicht worden ist. Die Antwort darauf gibt Keaton Jones, den schon lange niemand mehr gefragt hat, die meisten sprechen lieber über ihn, anstatt ihm zuzuhören. "Es ging mir nicht um Ruhm oder Reichtum", sagt er. "Ich habe das Video gemacht, um auf Bullying hinzuweisen. Das ist ein ernstes Problem in unserer Gesellschaft." Einer der wenigen Sätze in diesem Fall, den man tatsächlich ungefiltert veröffentlichen kann.

© SZ vom 14.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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