Türkei:Mordfall Sürücü: "Eine Tat aus der Jugend"

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In Berlin erinnert ein Gedenkstein an die vor elf Jahren ermordete Hatun Sürücü. Ihr damals 18-jähriger Bruder hatte sie mit drei Kopfschüssen getötet. (Foto: Soeren Stache/dpa)
  • In Istanbul hat ein Prozess wegen der Ermordung der Berliner Deutschtürkin Hatun Sürücü vor fast elf Jahren begonnen.
  • Das Verfahren gegen die Brüder Mutlu und Alpaslan Sürücü wurde nach dem ersten Verhandlungstag auf den 28. April vertagt.
  • Die Schuld an ihrer Misere geben die Brüder anderen.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Das letzte Wort nimmt sich Mutlu Sürücü einfach. Aus dem Angeklagten wird jetzt ein Ankläger, ein richtig wütender sogar. Der Vorsitzende Richter hat die Sitzung beendet. Aber deshalb ist noch nicht Schluss: "Ihr elenden Hunde", schimpft er in den Saal, wo vor allem deutsche Journalisten sitzen. "Seid ihr zufrieden?" Bis eben hat man nur seinen Rücken gesehen, genau genommen den gestreiften Strickpulli. Fast anderthalb Stunden lang hat Mutlu den Prozess verfolgt, ohne sich umzuschauen. Jetzt aber bricht es aus ihm heraus. So sehr, dass zwei Polizisten herbeieilen und ihn durch den Nebenausgang aus dem Gerichtssaal zerren.

Ayhan Sürücü verachtete das selbstbestimmte Leben seiner Schwester

Eine Familie ist kaputtgegangen, wenn sie das nicht schon war. Die 23-jährige Hatun Sürücü ist von ihrem jüngeren Bruder Ayhan in Berlin erschossen worden. Elf Jahre ist das her. Ein sogenannter Ehrenmord, mitten in Kreuzberg. Es war eine Nacht im Februar 2005. "Bereust du deine Sünden?", fragte Ayhan seine Schwester, die ihr Leben führte, wie sie es wollte. Selbstbestimmt. Eigener Job, eigene Wohnung, ein Freund. Ayhan Sürücü verachtete ihr Leben. Dreimal schoss er ihr in den Kopf.

Der Fall löste in Deutschland eine breite Debatte über Integration und sogenannte Parallelgesellschaften aus. Nur restlos aufgeklärt, gar gesühnt, wurde die Tat nicht.

SMS-Nachrichten deuteten auf einen gemeinsamen Plan hin

Verurteilt wurde nur der damals 18-Jährige Ayhan. Er saß eine Jugendstrafe von mehr als neun Jahren ab, dann wurde er abgeschoben und lebt heute in Istanbul. Im dortigen 10. Gericht für schwere Straftaten müssen sich jetzt seine Brüder Alpaslan, 35, und Mutlu, 36, verantworten. Sie waren in Berlin angeklagt, an dem Mord beteiligt gewesen zu sein. Auch glaubten die Ermittler, sie hätten die Tatwaffe besorgt; Ayhan habe damals nur die alleinige Schuld auf sich genommen, weil ihm als Jüngstem die geringste Strafe drohte. Auf einen gemeinsamen Plan deuten SMS-Nachrichten hin - und die Aussage von Ayhans damaliger Freundin, einer der älteren Brüder habe zu Ayhan gesagt, er habe nur einmal schießen sollen. Doch Alpaslan und Mutlu wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Prozess
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Als 2007 der Bundesgerichtshof die Freisprüche aufhob, hatten sich die Männer längst in die Türkei abgesetzt. 2013 übersandten deutsche Behörden die Prozessakten in die Türkei, wo Alpaslan und Mutlu nun der Prozess gemacht wird. Sie werden des Mordes und der Tötung einer nahen Verwandten beschuldigt.

"Dass der Prozess stattfindet, ist eine gute Nachricht für die Gerechtigkeit"

Am Dienstag ist das Gericht unter Vorsitz von Mahir Merdun in die Zeugenbefragung eingestiegen. Unter den Prozessbeobachtern ist auch ein Vertreter des deutschen Generalkonsulats. "Allein die Tatsache, dass der Prozess stattfindet, ist eine gute Nachricht für die Gerechtigkeit", sagt Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU).

Dieser Verhandlungstag wird zu einem Familientreffen der besonderen Art. Alpaslan und Mutlu sind als Angeklagte da. Der Todesschütze Ayhan und Emrah, ein weiterer Bruder, der zur Tatzeit wegen anderer Delikte in Berlin im Gefängnis saß - sind als Zeugen geladen. Den verstörendsten Auftritt hat Ayhan, dunkler Mantel, dunkles Hemd. Er entschuldigt sich bei seiner Familie - aber nicht für den Mord, sondern dafür, was seine Angehörigen später über sich haben ergehen lassen müssen wegen einer "Tat aus der Jugend". Er erzählt von den Journalisten, die bis ins Heimatdorf gekommen seien, um die Familie aufzuspüren.

"Wir sind hier in der Türkei und nicht in Deutschland. Hier kann ich ohne Druck reden", sagt er. Seine Brüder schützt er. Wie schon im Berliner Prozess nimmt er die Schuld auf sich. Es habe keinen gemeinsamen Plan gegeben, Hatun Sürücü zu ermorden. Die Waffe habe er über einen Arbeitskollegen besorgt, die Schüsse habe er abgefeuert, weil er sich vor lauter Rage vergessen habe. Auch Bruder Emrah schützt die Angeklagten. Womöglich hätten Freunde seinen Bruder angestiftet. Er spricht nicht von Mord, sondern sagt: Aktion.

Das Gericht nimmt sich nicht sonderlich viel Zeit für diese Zeugen. Aber es hat sich eingearbeitet. Das fällt auch den Prozessbeobachtern auf. Schon im Berliner Prozess kamen Andeutungen auf, Alpaslan könnte seine Schwester lange vor dem Mord sexuell bedrängt haben. Zumindest wird klar, dass etwas vorgefallen sein muss. Danach habe Kälte geherrscht, berichtet Emrah, auch zwischen der Mutter und Hatun habe es Streit gegeben. Ganz langsam arbeitet sich das Gericht vor.

In der Türkei interessiert sich kaum jemand für den Prozess. Es gibt zu viele "Ehrenmorde"

Während die Beobachter aus Deutschland gebannt zuhören, stößt der Prozess in der Türkei kaum auf Interesse. Das verwundert die Berliner Rechtsanwältin Seyran Ateş nicht, die auch schon den Prozess in Berlin verfolgt hat: "Die türkische Gesellschaft ist so abgestumpft", sagt die Familienrechtlerin, die sich gegen Zwangsehen einsetzt. In den vergangenen fünf Jahren seien in der Türkei mehr als 1100 Frauen durch die Hand ihrer Männer, Brüder oder Väter ums Leben gekommen. Ateş ist froh, dass nun auch die türkische Justiz im Fall Sürücü Verantwortung übernimmt.

Ende April wird der Prozess fortgesetzt. Dann will das Gericht die Hauptbelastungszeugin aus dem Berliner Verfahren hören. Sie wurde in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen und lebt unter neuer Identität, versteckt vor den Brüdern Sürücü.

© SZ vom 27.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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