Spanien:Die große Flatter

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Im andalusischen Dorf Cazalilla gibt es seit vielen Jahren eine hübsche Tradition: Ein lebender Truthahn wird vom Kirchturm geworfen. Aber ist das nicht Tierquälerei? Jetzt musste sich der Ort entscheiden.

Von Thomas Urban, Cazalilla

"Viva la pava!", singt die Menge verzückt und immer lauter. Dieser so melodische Reim hört sich in der deutschen Übersetzung ganz banal an: "Es lebe die Pute!" Es ist ein Truthahn, der auf dem Kirchplatz des nordandalusischen Dorfes Cazalilla besungen wird. Zum Fest des Heiligen Blasius, so will es der Brauch, wird gegen Sonnenuntergang eine lebende Pute vom Kirchturm geworfen. Bei wem das verzweifelt flatternde Tier landet, dem sei für ein Jahr Glück beschieden. Zumindest, wenn er es in dieser Zeit auch dem Vogel gut ergehen lässt.

Alles in Ordnung also, gäbe es da nicht einige militante Tierschützer, die es auf diesen hübschen Brauch abgesehen hätten. Eine Gruppe von ihnen hatte vor einem Jahr das Dorffest von Cazalilla sogar massiv gestört. Da wäre es fast zu einer Massenkeilerei gekommen, als die Pute vom Kirchturm flog. Obendrein brachte die Tierschutzorganisation Pacma den Putenwurf vor Gericht.

Spanische Volksfeste haben die selbsternannten "Verteidiger der Rechte und Würde der Tiere" schon seit längerer Zeit im Blick. In ihrem Land verbluten ja nicht nur Stiere in der Arena, auch Esel, Schweine, Enten, Tauben, Mäuse werden ihrer Meinung nach unter dem Mantel der Tradition immer wieder barbarischen Qualen ausgesetzt, erleiden schlimmsten Stress und verenden meist dabei. Bis zu 10 000 Tiere würden jährlich im ganzen Land allein bei Heiligenfesten geopfert, behaupten sie.

"Viva la pava!", lautet seit Jahrhunderten der Schlachtruf in Cazalilla. Wenn nur nicht immer diese Tierschützer wären. (Foto: Rodrigo Garcia Rodriguez)

Die Entscheidung des Gerichtes war eindeutig: Es verbot den Truthahnwurf vom Kirchturm. Wegen Tierquälerei. Doch unter den 900 Einwohnern des inmitten endloser Olivenbaumplantagen gelegenen Dorfes, in dem im Winter raue Winde wehen, regte sich Widerstand. "Wir lassen uns unsere Tradition nicht nehmen", dieser Satz wurde auf T-Shirts und Fahnen gedruckt. Denn die örtliche Legende will es, dass vor anderthalb Jahrhunderten die Pute ein Versöhnungsgeschenk war, das den Zwist zweier verfeindeter Familien nach der verbotenen Liebe ihrer Kinder endlich beendete. Der Küster der Kirche betont freilich: "Mit Kirche und Glauben hat diese Tradition nichts zu tun." Ihrerseits ziehe die Gemeinde zum Fest des Heiligen Blasius lediglich mit einer hölzernen Statue durch die Straßen. Die Pute sei Folklore.

Der Renner zum diesjährigen Fest jedenfalls war ein orangefarbener Aufkleber in Herzform mit dem Ausruf "Pava, sí!" (Ja zur Pute). Es ging darum, der Staatsgewalt Widerstand zu leisten. Aber geht das? Die überregionalen Medien schickten Reporter nach Nordandalusien, Übertragungswagen fuhren vor. Dann, wenige Stunden vor der großen Flatter, folgte die große Überraschung: Das zuständige Bezirksgericht hob die Entscheidung der ersten Instanz auf, der Putenwurf war ab sofort wieder erlaubt. Ein Gutachter hatte befunden, dass die Pute durch die Sache keinen Schaden nähme, denn Puten verfügten nur über eine geringe kognitive Kompetenz. Mit anderen Worten: Sie sind blöd. Nicht umsonst hat das spanische Wort "pava" die Nebenbedeutung "dumme Tusse", ganz so wie im Deutschen das Wort "Pute".

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Nun schritten die Regionalbehörden in Sevilla ein und drohten für den Fall des Tierwurfs ein Bußgeld von 2001 Euro an. Doch die Traditionalisten in Cazalilla amüsierten sich nur darüber. Mit Leichtigkeit, meinten sie, würde eine kleine Sammlung im Dorf genau diese Summe erbringen. Und so feierten sie bereits im Voraus ihren Sieg: Die Polizei wurde angewiesen, das Fest zu schützen, schließlich hatte das Gericht alles erlaubt. So konnten alle Zufahrtstraßen genauestens auf Putenflug-Gegner hin kontrolliert werden. Gleich zwei Dutzend wurden herausgefischt. Die durften dann am Ortsrand noch vor der Polizeisperre ihre Spruchbänder entrollen und Parolen schreien. Am Kirchplatz hat man davon nichts mitbekommen.

Dort verlief zunächst alles nach Plan: Begleitet von dem Ruf "Viva San Blas!" zog die Blasius-Prozession los. Vier jovial lächelnde Pfarrer im Ornat marschierten auf, die örtliche Musikkapelle spielte dazu. Über dem Platz blinkte die Leuchtschrift "Felices fiestas" - Frohe Festtage! Der Autoscooter, die Hüpfburg mit Spider-Man, die Buden mit Zuckerwatte, Waffeln und Döner warteten auf Kundschaft. Die Prozession schloss ihre Runde ab, Kirchenglocken läuteten, alle Blicke, Handys, Fotoapparate und Kameras richteten sich auf den Kirchturm. "Viva la pava!" Darunter versammelten sich etwa drei Dutzend junge Männer, bereit zum Puten-Sprung. Doch die Zeit vergeht, die Sonne verschwindet - und es geschieht: NICHTS. Schon verabschieden sich die ersten Zuschauer, Gerüchte machen die Runde: Das Bußgeld sei verzehnfacht worden, auf 20 010 Euro. Großes Geschimpfe setzt ein, auf die Regionalregierung in Sevilla, auf die Zentralregierung im fernen wie ungeliebten Madrid, auf die EU in Brüssel. Und überhaupt: "Die wollen uns unsere Tradition nehmen! Viva la pava!"

SZ-Grafik (Foto: grafik)

Doch plötzlich kommt Bewegung in die Menge, alles läuft auf die andere Seite der Kirche. Von dort ertönt der Schlachtruf: "Sí, sí, sí, la pava ya está aquí!" - Die Pute ist schon hier!

Die Dorfoberen haben nämlich in letzter Sekunde so entschieden: Rebellion gegen die Obrigkeit, das geht nicht, denn Ordnung muss schon sein. Also steigt zwar niemand mit der Pute auf den Kirchturm. Aber den Brauch ganz zu streichen, das wäre auch eine schmähliche Niederlage. Also wird der Vogel abseits der Menge einfach ebenerdig aus einem Käfig getrieben. Ein Prozedere, über das die Festgäste später noch lange in den Bars und Straßencafés diskutieren.

Jedenfalls wird jener junge Mann, der das Federvieh schließlich einfängt, als großer Held gefeiert. Ob die Pute gestresst ist, darüber gehen die Meinungen freilich auseinander. Die meisten meinen, sie hätte eher ziemlich teilnahmslos ausgesehen. Vor den Kameras flattert das dicke Tier dann noch ein wenig mit den Flügeln. Wahrscheinlich, um nur nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen.

© SZ vom 05.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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