Prozess:Unterbesetzt, überaltert

Lesezeit: 3 min

Im Berliner Pädophilen-Prozess ist es zu folgenschweren Verzögerungen gekommen. Eine Suche nach Gründen.

Von Christian Endt, Berlin

Im Prozess gegen ein mutmaßliches Netzwerk pädophiler Männer, denen sexueller Missbrauch von Kindern in Hunderten Fällen vorgeworfen hat, muss sich nun nur noch einer der fünf Verdächtigen vor Gericht verantworten. Einer der mutmaßlichen Täter ist bereits verstorben, zwei weitere sind im hohen Alter und verhandlungsunfähig. Und das Verfahren gegen den Vierten wurde am zweiten Verhandlungstag eingestellt, weil ihm nur wenige Fälle vorgeworfen werden, die im Vergleich zu einer anderen Strafe kaum ins Gewicht fallen; er hat gestanden und macht eine Therapie wegen seiner pädophilen Neigungen. Was erneut die Frage aufwirft: Warum bloß wird der Fall erst jetzt vor Gericht verhandelt?

Die Taten ereigneten sich in den Jahren 2002 bis 2009. Schon 2008 durchsucht die Kripo das Haus des heutigen Hauptangeklagten. 2011 übergibt die Polizei die Ermittlungsakten an die Staatsanwaltschaft, Abteilung 264, die sich um sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen kümmert. "Dort lag die Akte unbearbeitet", sagt Felicitas Selig, die Verteidigerin des Hauptangeklagten: "Entweder sie hatten keine Lust oder sie waren überlastet." Die Staatsanwaltschaft möchte sich mit Hinweis auf das laufende Gerichtsverfahren nicht dazu äußern, welche Ermittlungsschritte in jener Zeit erfolgt sind.

Ende 2014 übernimmt die für organisierte Kriminalität zuständige Abteilung 255 den Fall . Im Mai 2015 kommt der heutige Hauptangeklagte in Untersuchungshaft, im Juni kommt er auf Kaution wieder frei. Es vergeht nochmals mehr als ein Jahr, bis die Staatsanwaltschaft im August 2016 Klage beim Landgericht Berlin einreicht.

Die am Verfahren beteiligten Rechtsanwälte reagieren auf Fragen nach der Verzögerung mit einem Schulterzucken. "Die Berliner Staatsanwaltschaft ist allgemein überlastet", sagt Mirko Röder, der eines der Opfer als Nebenkläger vertritt. "Da liegen noch ganz andere Sachen." Für seinen Mandanten sei das "furchtbar": Der muss nun viele Jahre nach den Ereignissen erneut vor Gericht aussagen, kann nicht damit abschließen. So ähnlich gilt das auch für die Angeklagten. "Die können das nicht hinter sich bringen", sagt Verteidigerin Selig, "acht Jahre mit so einem Druck, das hält kaum einer aus."

Das Statistische Bundesamt veröffentlicht jährlich Zahlen über die Arbeit der Staatsanwaltschaften. Die aktuellen Daten beziehen sich auf das Jahr 2015. Demnach brauchte die Berliner Staatsanwaltschaft durchschnittlich eineinhalb Monate bis zum Abschluss eines Verfahrens. Das entspricht dem Bundesdurchschnitt. In 0,17 Prozent der Fälle dauerte die Bearbeitung länger als drei Jahre; deutschlandweit sind das 0,13 Prozent. Möglicherweise sind solche Statistiken ein Teil des Problems. Sie werten jeden Fall gleich, egal ob es sich um einen Fahrraddiebstahl handelt oder um hundertfachen Kindesmissbrauch. Die internen Beurteilungen einzelner Staatsanwälte funktionieren nach dem gleichen Prinzip. Wer in der Strafverfolgung Karriere machen will, arbeitet also besser viele einfache Akten ab, als sich einer große, langwierige Ermittlung zu widmen. "Der Erledigungsdruck spielt sicher eine Rolle", sagt Ralph Knispel, Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte. Den konkreten Fall kenne er zwar nicht, aber die Berliner Staatsanwaltschaft habe zu wenig Personal. "Das führt zur unzureichenden Bearbeitung von Fällen." Es gebe für Staatsanwälte keine festen Arbeitszeiten. "Sie müssen ihre Arbeit schaffen, egal ob sie dafür 40 oder 80 Stunden brauchen." Eigentlich müsse es aber auffallen, wenn ein Fall jahrelang unbearbeitet bleibe: "In den Abteilungen werden monatlich Restelisten geführt. Das kann Vorgesetzten nicht verborgen bleiben."

Bei einem Geständnis könnte der Angeklagte mit vier Jahren Gefängnis davonkommen

Auch die Vorgesetzten können allerdings nur mit dem Personal arbeiten, das sie haben. "Wir haben ein strukturelles Problem", sagt Holger Krestel (FDP), der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus, "die Berliner Staatsanwaltschaft ist unterbesetzt und überaltet." Die Behörde tue sich schwer, ausreichend geeignete Bewerber zu finden, da Berlin weniger bezahlt als die anderen Länder und der Bund. Krestel fordert daher, die Gehälter in Berlin anzugleichen.

Der Prozess gegen den verbliebenen Angeklagten vor dem Berliner Landgericht wird am 21. Februar fortgesetzt. In der Zwischenzeit arbeiten Strafkammer, Staatsanwaltschaft und Verteidigung an einer vorzeitigen Verständigung. Bei einem "umfassenden Geständnis" könnte der Angeklagte mit einer Strafe von vier bis viereinhalb Jahren Gefängnis davonkommen. Wenn es zu einer Einigung kommt, bliebe den Opfern die Zeugenaussage vor Gericht erspart. Sie könnten dann damit abschließen, endlich.

© SZ vom 09.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: