Prozess:"Halt meine Hand fest"

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Am 24. Juli 2010 sterben bei der Loveparade in Duisburg 21 Menschen. Nun ist in dem Prozess zum ersten Mal ein Opfer zu Wort gekommen.

Von Christian Wernicke, Düsseldorf

Sie kämpft. Mit dem, was sie erlebt oder was sie verdrängt hat. Und um ihre Fassung. Rosalinda B. ist die erste Zeugin, die mehr als einen Monat nach Beginn des Strafprozesses um die Loveparade 2010 aussagt. Und das erste Opfer, das endlich zu Wort kommt. Zögerlich, mit gebrochener Stimme schildert die 31-Jährige mit den langen, schwarzen Haaren, wie damals Tausende im Tunnel und auf der Rampe am Duisburger Güterbahnhof zusammengequetscht wurden. Wie 21 Menschen starben. Bis heute befalle die Zeugin manchmal Atemnot. Die Anfälle kommen ganz plötzlich, "jedes Mal, wenn ich etwas rieche oder sehe, das mich erinnert".

An jenem tragischen 24. Juli 2010 war Rosalinda B. mit ihrer Schwester zu der Techno-Parade gefahren. Mit dem Taxi. Rein kamen sie. Aber als sich die Schwester an einer Glasscherbe verletzte und die beiden einen Sanitäter suchten, gerieten sie ins Gedränge an dem einzigen Ein- und Ausgang. "Wir wurden von vorn und von hinten gedrückt", sagt die Zeugin, "wie Sardinen in einer Büchse". Eine Polizeikette versuchte, die Menge zu ordnen, und irgendwer sagt, man solle warten, bis es ruhiger werde: "Aber es wurde nicht ruhiger." Es wurde schlimmer.

Zeitangaben, wann genau sie was wo erlebte, kann die Zeugin nicht machen

"Halt meine Hand fest, lass ja nicht los", schrie die Schwester. Aber die beiden wurden getrennt, beide überlebten, irgendwie. Rosalinda, 1,58 Meter groß, rang um Luft, sah vor sich nur noch Oberkörper oder Rücksäcke. Ein junger Unbekannter half ihr, hielt ihren Kopf hoch, drängelte vor zu der kleinen Betontreppe, über die Menschen aus der Todesfalle flohen. Doch da stürzte sie bereits auf der zweiten Stufe, andere fielen über sie. Neben ihr, so erzählt die Zeugin unter Tränen, habe eine junge Frau gelegen, die auch nicht mehr hochkam. "Bitte hilf mir", habe das halbe Kind gefleht, doch: "Ich konnte mich nicht befreien, die Menschen waren auf mir drauf." Und wurden schwerer und schwerer, bis sie die Ohnmacht übermannte. Aufgewacht ist B. damals Stunden später im Krankenhaus.

Mario Plein, der Vorsitzende Richter des Duisburger Landgerichts, versucht mit Fragen, der Zeugin gerichtsverwertbare Erkenntnisse abzuringen. Ob die Ordner, wie im Sicherheitskonzept der Loveparade vorgesehen, denn mit Anweisungen versucht hätten, "die Verdichtung von Menschen aufzulösen?" Rosalinda B. erinnert sich nicht ("Die standen da rum."), aber die Zäune nahe der Unglücksstelle seien wackelig gewesen. Ob die Polizei ihre Beamtenkette geordnet hatte oder nur hilflos aufgab, weiß sie auch nicht genau: "Die wurde aufgerissen." Und Zeitangaben, wann genau sie was wo erlebte, kann die Zeugin auch nicht machen. Nur dies: "Für mich hat es eine Ewigkeit gedauert."

Seit Jahren ist Rosalinda B. in therapeutischer Behandlung. Organische Schäden erlitt sie nicht, die psychischen Folgen aber erdrücken sie. Nervös knetet sie am Donnerstag ihre Finger. Und manchmal presst sie ein weißes Taschentuch zusammen. Etwa, als sie preisgibt, was sie bis heute am meisten quält: "Ich weiß nicht, ob das Mädchen neben mir am Leben ist. Oder ob sie gestorben ist."

© SZ vom 12.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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