Prozess:Bewährung nach Todesfahrt

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Zwei Tote, 27 Verletzte: Ein Gericht urteilt, ein 85-Jähriger habe fahrlässig gehandelt.

Von Moritz Geier, Bad Säckingen

Als das Urteil gefallen ist, nehmen zwei Nebenkläger den Mann in die Arme, der für den Tod ihres Bruders verantwortlich ist. Seine Entschuldigung war das emotionale Ende eines emotionalen Prozesses, der nur Leidtragende versammelt hat. Nebenkläger, die ihren Bruder oder ihre Mutter beerdigen mussten. Zeugen, die Menschen wie Crashtest-Puppen durch die Luft fliegen sahen. Und ein Angeklagter, der bis heute keine Freude mehr empfindet.

Das Amtsgericht Bad Säckingen hat am Mittwoch einen 85-jährigen Mann der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung schuldig gesprochen. Richterin Margarete Basler verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung und folgte damit der Forderung der Staatsanwaltschaft. Auch der Verteidiger sah das Strafmaß als angemessen an. Sein Mandant muss zudem seinen Führerschein dauerhaft abgeben und 1500 Euro an die Opferhilfe Weißer Ring zahlen.

Der Fall hatte eine schwelende Debatte über die Fahrtauglichkeit von Senioren neu entfacht

Nach mehreren Zeugenaussagen war es gelungen, den Unfall so zu rekonstruieren, dass keine Widersprüche mehr geblieben sind: Der Mann war vor einem Jahr im verkehrsberuhigten Bereich der Innenstadt von Bad Säckingen mit einem Radfahrer kollidiert. Beim Versuch zu bremsen rutschte der Mann vom Brems- aufs Gaspedal. Das Auto beschleunigte, erfasste den Radfahrer und raste in die Tische vor einem Café. Eine Mitschuld des Radfahrers schloss das Gericht aus, der 60-Jährige und eine 63-jährige Frau kamen bei dem Unfall ums Leben. 27 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.

Der Vorwurf der Fahrlässigkeit treffe zu, stellte die Richterin klar, weil der Autofahrer möglicherweise unaufmerksam war, sich kurz vor der Kollision nach einem Parkplatz umsah. Den Radfahrer hätte er früher sehen müssen. Auch die Entfernung habe er womöglich falsch eingeschätzt, eine Vollbremsung, wie von ihm beabsichtigt, sei nicht nötig gewesen. Als fahrlässig bewertete sie auch seine fehlende Reaktion, den Fehler des Abrutschens aufs Gaspedal zu korrigieren.

Der Fall hatte eine schwelende Debatte über die Fahrtauglichkeit von Senioren neu entfacht. Das Bundesverkehrsministerium lehnt Pflichtuntersuchungen ab, Fahrer sollen ihre Fahrtauglichkeit selbst einschätzen. Der 85-Jährige sagte vor Gericht, er habe sich gut gefühlt an jenem Tag, habe nie zuvor einen Unfall gebaut.

Seine Fahrtauglichkeit hatte vor dem Unfall kein Arzt untersucht, kein Test ermittelt und auch kein Angehöriger hinterfragt. Als Zeugin sagte im Prozess eine Medizinerin des TÜV aus, die das Leistungsvermögen des Mannes nach dem Unfall untersucht hatte. Diagnose: ein Sehvermögen "unter der Norm", eine "generelle altersbedingte Leistungsminderung", ein Scheitern beim Fahreignungstest und dazu eine "außergewöhnliche Selbstüberschätzung". In der "altersbedingten Einschränkung" des Mannes sah Richterin Basler eine Ursache für den Unfall, aber keine Schuld. Eine Rechtsmedizinerin, die den Prozess als Gutachterin begleitete, hatte die Selbsteinschätzung des Mannes als "nicht ungewöhnlich" eingestuft. Das Alter schwäche Menschen so schleichend, dass man seine eigenen Defizite oft nicht wahrnehme.

© SZ vom 11.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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