Poesiealbum von 1947:Immi sucht Rudi

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Irmgard Melzer (Mitte) als etwa 16-Jährige mit zwei ihrer Schwestern. (Foto: privat)

Irmgard Melzer ist gerade 19, als ihr ein gewisser Rudi Schlesiger in einem Flüchtlingslager ein Liebesgedicht ins Poesiealbum schreibt. Jetzt, 70 Jahre später, hat sie sich auf die Suche nach ihm gemacht. Können Sie helfen?

Von Lena Jakat

"Wenn des Mondes Silberschein // leuchtet in dein Kämmerlein // dann denk' einmal an mich - so wie ich denk' an Dich." Gleichmäßig malt er die Buchstaben auf die Seite, setzt jedes Apostroph, jeden Schwung akkurat. Es ist der 9. Juli 1947, als Rudi Schlesiger die Zeilen in das Poesiealbum schreibt. Er schreibt sie für Irmgard "Immi" Krügermann, seine Kollegin im Postamt des Flüchtlingslagers Oksbøl. Schon bald wird Rudi Oksbøl verlassen, wenig später auch Immi. Die beiden werden sich nie wieder sehen.

1947 ist der Krieg vorbei, doch Abertausende Leben haben sich in seinen Wirren auf lange Zeit verheddert. So wie das von Immi, ihren vier Schwestern und ihrer Mutter. Seit 1945 leben sie im Flüchtlingslager Oksbøl im Westen Dänemarks, gemeinsam mit bis zu 40 000 anderen Menschen, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vor der herannahenden Roten Armee geflohen sind. Immis Habseligkeiten liegen auf dem Grund der Ostsee, der Wagen mit dem Hausstand der Familie ist auf der Flucht durchs Eis gebrochen. Immis Kämmerlein ist ein Zimmer in einer Baracke, das sie mit 13 anderen teilt, zwölf Frauen und Kindern und einem Mann.

Immi und Rudi lernen sich im Postamt kennen, arbeiten dort Seite an Seite, unterhalten sich, lachen miteinander. Werden Freunde, ein bisschen mehr. Immi ist 19, Rudi etwa zwei Jahre älter. Immi ist mit ihrer Familie aus dem Kreis Marienburg (polnisch: Malbork) geflohen. Rudi war für den Volkssturm eingezogen und nach Ostpreußen geschickt worden, als der Krieg ohnehin schon verloren war - so zumindest erinnert sich Irmgard heute.

Die Seite in Irmgard Melzers Poesiealbum, auf der sich Rudi Schlesiger verewigte. (Foto: privat)

"Ein lieber Kerl", sagt Irmgard, die inzwischen Melzer heißt. "Er wollte irgendwie in die Künstlerrichtung." Geküsst, sagt Irmgard, habe sie ihn aber nicht, den Rudi. "Ich hatte Angst, davon kriegt man Kinder." Die 86-Jährige kichert. Sie lebt heute in einem Seniorenheim bei Schwerin, hat einen Sohn, zwei Enkel und einen Urenkel. Und sie ist auf der Suche nach Rudi.

Im Trubel jenes Sommers '47, da niemand recht wusste, wo sie alle einmal enden würden, da obendrein Irmgards Mutter schwer erkrankte, und dann plötzlich alles ganz schnell gehen musste, haben Rudi und Irmgard versäumt, ihre Adressen auszutauschen.Irmgard zieht mit Mutter und Schwestern zur Familie ihres Vaters in die sowjetische Zone, arbeitet später in Schwerin bei der Bank und in der Buchhaltung des Sportclub Traktor.

Dann 2014, ein Leben später, sieht Irmgard im Fernsehen den Aufruf für eine Dokumentation über Poesiealbum-Freundschaften - und Hoffnung geschöpft, vielleicht so doch etwas von Rudi zu erfahren. Wiebke Possehl, die hinter dem TV-Aufruf steckt und für den NDR nach Rudi und anderen Verfassern verblasster Poesiealbum-Einträge sucht, hat recherchiert und zu telefoniert. Irmgard Melzer erinnert sich nicht mehr, ob jener Rudi Schlesiger, der ihr 1947 so gut gefiel, blond oder dunkelhaarig war, ob er braune oder grüne Augen hatte. Aber sie sagt, er stammte wohl aus Bayern.

Irmgard Melzer ist heute 86 Jahre alt und lebt bei Schwerin. (Foto: privat)

Tatsächlich fand Wiebke Possehl einen Rudi Schlesiger in Bayern, der ebenfalls in Oksbøl untergebracht war. Doch was nach Happy End klang, stellte sich als kurioser Zufall heraus: Zum einen kann sich Rudi Schlesiger an keine Irmgard erinnern. Vor allem aber war er damals erst zwölf Jahre alt, etwa zehn Jahre zu jung. "Ich glaube nicht, dass der aus Bayern kam", sagt der falsche Schlesiger am Telefon über den richtigen. "Die Schlesigers kamen ja aus Ostpreußen, vielleicht manche auch aus Schlesien." Aber aus Bayern? Das Örtliche listet online 328 Einträge für Schlesiger auf, die meisten davon tatsächlich in der Nordhälfte Deutschlands.

Ist der richtige darunter? Es ist unsicher, ob Rudi noch lebt, er müsste heute etwa 89 Jahre alt sein. Aber vielleicht hat er ja Kinder, Enkel oder Freunde, die berichten können, was aus dem künstlerisch veranlagten jungen Mann wurde. Und wer weiß - womöglich wird aus der "freundlichen Erinnerung" mit der sich Rudi 1947 in Immis Poesieablum verewigte, ein freudiges Wiedersehen.

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