Norwegen:Geweih und Verderb

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Zum Schutz vor Unwettern stellen sich Rentiere gerne dicht aneinander. In Norwegen scheint ihnen das nun zum Verhängnis geworden zu sein. (Foto: imago)

Während eines schweren Unwetters sterben auf einer norwegischen Hochebene weit mehr als 300 Rentiere auf freiem Feld. Experten rätseln nun, wie es zu dem außergewöhnlichen Unglück überhaupt kommen konnte.

Von Titus Arnu

In der Transportlogistik des Weihnachtsmanns spielt das Rentier eine zentrale Rolle. Ohne seine acht Zugtiere wäre Santa ähnlich aufgeschmissen wie Amazon ohne Lieferdienste. Aus amerikanischer Sicht wohnt Santa Claus ja am Nordpol, und dort gibt es weder Paketschalter noch Bahnhöfe. Die fliegenden Rentiere heißen übrigens nicht Rudolph 1 bis Rudolph 8, sondern sie tragen der Sage zufolge die Namen Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donder und Blitz.

Donder und Blitz! Ein heftiges Unwetter hat im Nationalpark Hardangervidda im Süden Norwegens mehr als 300 Verwandte von Santas berühmten Paketlieferanten getötet. Wildhüter zählten auf dem Hochplateau bis Sonntag 322 Rentier-Kadaver, die meisten von ihnen innerhalb eines Umkreises von 50 bis 80 Metern. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Wildtiere von Blitzen getötet würden, sagte Kjartan Knutsen, Sprecher des norwegischen Umweltamts. Aber von solch einer großen Anzahl habe man zuvor noch nicht gehört. Die Tiere hätten sich wohl zum Schutz vor dem Unwetter dicht aneinandergestellt. Als der Blitz in die Verwandten von Donder und Blitz einschlug, wurde ihnen die vermeintlich sichere Herde wohl zum Verhängnis - die tödliche Hochspannung erfasste ein Tier nach dem anderen.

Die Hardangervidda ist die größte Hochebene Europas, sie wirkt auf den ersten Blick nicht gerade spannend. Die weite, karge Hügellandschaft ist ein Refugium für Tierarten wie Schneeeulen, Polarfüchse, Elche und Berglemminge. Auf einer Fläche von 8000 Quadratkilometern leben in Höhen zwischen 1200 und 1400 Metern außerdem mehr als 10 000 wilde Rentiere - die größte Herde Norwegens.

Sind Rentiere durch ihre Geweihe bei Gewittern besonders gefährdet? "In einer baumlosen Umgebung ist das Geweih tatsächlich der höchste Punkt", sagt Andreas Kinser, Referent für Forst- und Jagdpolitik bei der Deutschen Wildtierstiftung. Außerdem spielt die sogenannte Schrittspannung eine Rolle: je nach Einschlagsort und Fußstellung können hohe Spannungsdifferenzen auftreten, die tödlich wirken. Ein Mensch kann mit seinen zwei Beinen die Gefahr etwas minimieren, indem er seine Füße eng nebeneinander stellt. Ein vierbeiniges Tier hat diese Möglichkeit nicht, selbst wenn es einen Begriff wie "Schrittspannung" kapieren würde.

In Deutschland sterben nach Angaben des Deutschen Ärzteblatts durchschnittlich drei bis vier Menschen pro Jahr durch Blitzschläge. Vor einem halben Jahrhundert waren Blitze in Deutschland noch für 50 bis 100 Todesfälle jährlich verantwortlich. Das liegt daran, dass früher mehr Menschen zu Fuß oder mit Pferden unterwegs waren, und zum anderen hat die Zahl der Landwirte und Forstarbeiter, die bei ihrer Arbeit im Freien besonders gefährdet sind, stark abgenommen. Für Wildtiere und Nutztiere existieren keine verlässlichen Statistiken, aber in den vergangenen Jahren gab es immer wieder Meldungen über Tiere, die Gewittern zum Opfer fielen - meistens handelte es sich um Kühe, die unter einem Baum Schutz vor Gewittern suchten. Bei einem Unwetter im Juni 2011 schlugen mehrere Blitze in einem Gehege des Wildparks Rheinland in Kommern ein, mehr als 30 Tiere verendeten, darunter Rotwild, Damhirsche und Mufflons. In Deutschland sei ein Ereignis wie der Tod von 300 Rentieren nicht denkbar, sagt Andreas Kinser von der Deutschen Wildtierstiftung, denn hierzulande finden die Tiere Schutz in den Wäldern, wenn es blitzt und donnert.

Ein besonders grotesker Fall ereignete sich allerdings im Januar 2005 in Ostfriesland: Bei einem Wintergewitter wurden 68 Nonnengänse während eines Formationsfluges von einem Blitz getroffen. Sie stürzten tot auf den Boden. Die meisten Tiere, die von Jägern gefunden wurden, wiesen Brandspuren auf. Logische Titelzeile der Lokalzeitung: "Das Schlaraffenland liegt in Niedersachsen - Gänse fielen gegrillt vom Himmel."

© SZ vom 30.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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