Neue Albertville-Realschule in Winnenden:"Wir sind stärker als der Schicksalsschlag"

In Raum 305 erschoss Tim K. binnen 15 Sekunden drei Mädchen. Zwei Jahre nach dem Amoklauf von Winnenden ist das Zimmer nicht wieder zu erkennen. Mit dem Umbau der Albertville-Realschule versuchen Schüler, Lehrer - der ganze Ort - ihr Trauma zu bewältigen.

Roman Deininger , Winnenden

Er sei damals zu Hause in Hamburg vor dem Fernseher gesessen, sagt Pierre Bocquentin, "da hat sich mir das Bild dieses flachen, weißen Haupteingangs sofort eingebrannt." Bocquentin ist Architekt, und wenig später erhielt er den Auftrag, jenes Bild wenn schon nicht aus dem Gedächtnis, so doch aus der Wirklichkeit zu löschen.

Albertville Realschule

"Ich habe einen Traum" - unter dem neuen Schulmotto kehren die Jugendlichen in die Albertville-Realschule zurück, die sie nach dem Amoklauf 2009 verlassen haben.

(Foto: dpa)

Die Tür, durch die Tim K. am 11. März 2009 morgens um halb zehn mit einer Pistole der Marke Beretta die Albertville-Realschule in Winnenden betrat, gibt es nicht mehr. Man kann nur noch erahnen, dass sie dort gewesen sein muss, wo nun die Wand des neuen, lichtdurchfluteten Glasfoyers ist.

Acht Schülerinnen, ein Schüler und drei Lehrerinnen sind durch die Kugeln von Tim K. gestorben, in Räumen und Gängen, die selbst mit dem Gebäude Vertraute nach dem aufwendigen Umbau kaum mehr wiederfinden oder zumindest kaum mehr wiedererkennen. "Kann man Raum 305 sehen?", fragt eine Journalistin aus der Region den Chef der Winnender Schulverwaltung.

15 Sekunden, hat die Polizei rekonstruiert, hielt sich Tim K. in Raum 305 auf, die 9c hatte gerade Deutsch, seine ehemalige Klasse. In diesen 15 Sekunden erschoss er drei Mädchen, Kristina, Jana und Chantal. Der Mann von der Schulverwaltung lächelt sanft und sagt: "In 305 sind Sie vorher gewesen." Keiner der drei "Taträume" trägt noch seinen alten Namen, keiner wird mehr für den Unterricht genutzt. In einen wird die Bibliothek einziehen, in einem anderen wird die Schüler AG T-Shirts bedrucken. Und im dritten soll unter Anleitung eines Museumsmachers eine Gedenkstätte entstehen.

Winnenden ist ein beschauliches Fachwerkstädtchen am Rand des Schwäbischen Waldes, aber auch zweieinhalb Jahre nach dem Amoklauf ist die Verwundung spürbar. Der Journalist Jochen Kalka, der hier wohnt, hat die Veränderung in einem Buch beschrieben. Dass es keinen Startschuss mehr gibt beim Schultriathlon, sondern ein Starttröten. Dass seine Tochter stets ein Päckchen Ketchup im Mäppchen hat, um sich besser totstellen zu können, wenn jemand um sich schießt.

Trotzdem haben sie in Winnenden das, was man Bewältigung nennt, ganz gut hingekriegt: eine große würdige Trauerfeier am ersten Jahrestag der Tat, eine kleine würdige Trauerfeier am zweiten. 15 weiße Rosen hingen am Marktbrunnen, eine für jedes Opfer. Die Schule hat sich ein neues Motto gegeben, es prangt in großen Buchstaben in der Aula: "Ich habe einen Traum", den Traum, dass es weitergeht - nicht so, als wäre nichts gewesen, aber doch: weiter.

Der Abriss wäre einer Niederlage gleichgekommen

Schon wenige Wochen nach der Tat hatten sich Stadtverwaltung und Schulleitung zusammengesetzt. Was sollte passieren mit der Stätte des Grauens? War jemand dafür, den Komplex abzureißen? Kein Finger ging nach oben. "Die Menschen haben beschlossen, dass sie sich dieses Gebäude nicht wegnehmen lassen", sagt der Schulpsychologe Peter Heinrich. "Sie wollten zeigen: Wir sind stärker als der Schicksalsschlag. Manche hätten es als Niederlage gegenüber dem Täter empfunden, wenn man das hier aufgegeben hätte." Und jetzt, zum Schulanfang in zehn Tagen, kommt die Albertville-Realschule nach Hause. Er würde weniger von einer Rückkehr reden, sagt Heinrich. "Das ist eine Rückeroberung."

Bund und Land haben Geld gegeben, fast fünf Millionen Euro, deshalb ging der Umbau so schnell. Architekt Bocquentin hatte bei der Planung die gleiche Aufgabe wie jeder in Winnenden in seinem Leben: Er musste umgehen mit der Erinnerung und mit der Angst. Die neue Schule, sagt Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth, "soll uns einen Weg in den Alltag bahnen". Sicher, es gibt jetzt einen Alarmknopf in jedem Klassenzimmer, einen direkten Draht zur Polizei, wie sonst nur bei Banken oder Juwelieren.

Es gibt eine neue Beschilderung, die Rettungskräften sekundenschnelle Orientierung erlaubt. Es gibt nur noch Klassenzimmer, die man von vorne betritt. Aber es gibt keine Eingangskontrolle und keine Sicherheitstüren wie in Amerika. Sven Kubick, der neue Direktor, ein Mann aus der Gegend, sagt: "Wir wollen ja zurück zur Normalität. Wir sind einfach froh, dass wir wieder eine Heimat haben." Nach der Tat musste in einer Art Containerdorf unterrichtet werden.

Der letzte Jahrgang, der Tote zu beklagen hatte, hat in diesem Sommer seinen Abschluss gemacht. Drei Lehrer haben die Schule nach der Tat verlassen. Aber die heutigen Klassen acht bis zehn waren natürlich auch da am 11. März 2009. Sie hörten die Schüsse und Schreie, und sie kauerten angsterfüllt hinter verrammelten Türen.

Einige Schüler und zehn der 50 Lehrer, sagt Psychologe Heinrich, würden von ihm und seinem Team weiter betreut. In den Ferien haben sie das neue Haus schon gemeinsam begangen, Rückeroberung, Schritt eins. Bis Weihnachten, hofft Heinrich, könnten sich die Psychologen "weitgehend zurückziehen". Dann wäre die Rückeroberung der Albertville-Realschule vollendet.

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