Mauerfall 1989:Späte Schikane eines Staates

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Vor 20 Jahren kämpfte eine ostdeutsche Familie bis zur Selbstaufgabe um die Genehmigung ihrer Ausreise. Ausgerechnet am 9. November 1989 wurde sie erteilt.

D. Esslinger

Sollten die Schüler in Tomah, US-Bundesstaat Wisconsin, Interesse an deutscher Geschichte haben - anschaulicher als bei ihrer Deutschlehrerin kann der Unterricht wohl kaum sein. Verona Chambers, 50, stammt aus der Gemeinde Tambach-Dietharz im Thüringer Wald, wo sie zu DDR-Zeiten unter dem Namen Stieg verheiratet war. Sie gehörte zu den letzten Ostdeutschen, die das Land noch legal verlassen durften. Ihr Ausreiseantrag wurde am 9. November 1989 genehmigt, dem Tag, an dem die Mauer fiel.

Kurz nachdem Verona Stieg am 9. November 1989 mit ihren Kindern am Bahnhof Friedrichstraße offiziell ausreisen durfte (auf dem Bild mit Schwager Volker und Bruder Mario), fiel in Berlin die Mauer. (Foto: Foto: oh)

SZ: Frau Chambers, wann hatten Sie den Antrag gestellt?

Verona Chambers: Offiziell am 30. Mai, handschriftlich aber einige Monate zuvor.

SZ: Warum handschriftlich?

Chambers: Mein damaliger Mann war am 3. Oktober 1988 nicht von einer Reise zur Tante nach Westberlin zurückgekehrt. Er hat uns aber geschrieben, dass er alles daran setzen werde, mich und die Kinder nachzuholen. Ich habe mich dann erkundigt, wie man einen Ausreiseantrag stellt. Daraufhin wurde mir gesagt: Ihr Mann hat Sie freiwillig verlassen. Sie kriegen erst mal keine Formulare. Ich fragte, wie lange ich warten müsste. Die Antwort: zehn Jahre.

SZ: Wie ging's dann weiter?

Chambers: Jeden Freitag musste ich nach Gotha, der Kreisstadt, zu Verhören fahren. Was ich so gemacht hätte während der Woche. Wurde alles mitgeschrieben. Sobald ich etwas ausgelassen hatte, trug der Polizeifritze es selber ein. Ich sollte wissen, dass ich überprüft werde. Und sie haben die Lebensversicherung meines Mannes und die Hälfte des Betrags auf dem gemeinsamen Sparkonto beschlagnahmt.

SZ: Begründung?

Chambers: Mein Mann habe die Republik verlassen, deshalb gehöre das jetzt dem Staat. Ich antwortete, wir haben zwei Kinder, mein Sohn Hannes ist acht und meine Tochter Anna drei Jahre alt, den beiden gehört das Geld doch auch. Beeindruckte die aber nicht.

SZ: Die Schikane eines Staates, der jede Mark brauchte?

Chambers: Es ging noch weiter. Nachdem ich am 30. Mai den offiziellen Antrag stellen durfte, kamen Beamte zu mir nach Hause und taxierten die Einrichtung. Kühlschrank, Nähmaschine, Auto, Handtücher, alles. Sie sagten, sobald meine Ausreise bewilligt sei, müsse ich dem Staat für jedes Einrichtungsstück die Hälfte des Wertes bezahlen. 150 Mark für den Kühlschrank. Ich sagte, niemals kriege ich für den Kühlschrank 300 Mark. Am Ende habe ich es doch nicht bezahlen müssen. Die wollten mir einen Schrecken einjagen.

SZ: Sie waren damals bereits Lehrerin. Konnten Sie noch weiterarbeiten?

Chambers: Nein. Sobald man offiziell den Antrag gestellt hatte, wurde auch offiziell reagiert. Mir wurde ans Herz gelegt, aber nicht sehr freundlich, einen Aufhebungsvertrag zu unterschreiben. Das geschah dann im August.

SZ: Und dann kam der 9. November.

Chambers: Am 8. November wurde mir mitgeteilt, dass ich am 9. ein Ein-Tages-Visum bekommen würde. Danach müsse ich innerhalb von 24 Stunden ausgereist sein. Mein Bruder und mein Schwager holten uns dann am Morgen des 9. November ab, und wir fuhren zum Rat des Kreises nach Gotha. Dort sollte ich eine Lichtbildbescheinigung für meine Kinder unterschreiben. Und dann war da meine Tochter nicht drauf.

SZ: Eine kleine Schikane zum Schluss.

Chambers: Ich dachte, aha, ich habe 24 Stunden, jetzt machen sie's mir ein bisschen schwer. Irgendwann war die Bescheinigung fertig. Als Nächstes musste ich für meine Kinder und mich die Staatsbürgerschaft der DDR ablegen. Die zwei Beamten fragten: Wissen Sie, was Sie da unterschreiben? Das bedeutet, dass Sie unter keinerlei Schutz mehr stehen, bis Sie im Westen sind. Da hab' ich gedacht, mmmh, okay; woraufhin die beiden ganz nah an mich herangerückt sind. Da bekam ich's dann doch mit der Angst zu tun. Man weiß ja nicht, ist das jetzt Einschüchterung oder tun die dir was.

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:Ulbrichts berühmte Lüge

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in Bildern.

SZ: Damit war's gut?

Chambers: Mir wurde gesagt, um 14 Uhr fährt der Zug von Gotha nach Berlin. Mein Bruder und mein Schwager wollten mich aber mit dem Auto nach Berlin bringen. Da hieß es, das geht nicht, weil ich am Bahnhof Friedrichstraße von den Behörden erwartet werde. Ich habe mich dann auf den Schreibtisch gesetzt und gesagt: Entweder ich fahre mit dem Auto oder Sie müssen mich hier raustragen. Nach geraumer Wartezeit sagte der eine: Fahren Sie zum Bahnhof, dort ist eine Fahrkarte für Sie hinterlegt. Die bezahlen Sie, kommen damit hierher, und dann dürfen Sie mit dem Auto fahren.

SZ: Dieser Staat hat es bis zuletzt ausgekostet.

Chambers: Wird noch besser. Am Bahnhof Friedrichstraße fragte mich der erste Wachposten: Was wollen Sie denn alles mitnehmen? Meine Kinder hatten jeweils einen Rucksack, ich hatte einen Koffer mit Schuhen und zwei mit Anziehsachen. Der Mann meinte, Sie können das doch nicht mitnehmen, ohne 'ne Liste geschrieben zu haben.

SZ: Es war der 9. November, es wurde schon dunkel, gleich würde Schabowski seine Pressekonferenz geben, aber hier am Bahnhof Friedrichstraße präsentierte sich die DDR noch wie immer.

Chambers: Wusste ja keiner, dass es ein historischer Tag ist. Nach einer Weile kommt ein anderer Posten und fragt: Was machen Sie denn für'n Quatsch? Ich: Na, ich muss 'ne Liste schreiben. Er: Packen Sie ein und gehen Sie jetzt durch.

SZ: Wo haben Sie von der Öffnung der Mauer erfahren?

Chambers: Mein Mann wohnte bei einem Franzosen zur Miete, der Koch im KaDeWe war, wir hatten supertolles Essen. Freunde, Verwandte, wir haben gefeiert, dass jetzt auch ich und meine Kinder da sind. Die Maueröffnung haben wir mehr oder weniger verpasst.

SZ: Wie bitte?

Chambers: Irgendwann am Abend riefen mein Bruder und mein Schwager an. Die waren zurück auf dem Weg nach Thüringen, hatten es irgendwo gehört und auch an ein Telefon geschafft. Es gebe jetzt Reisefreiheit, sagten sie.

SZ: Dass die Mauer auf ist, sagte er nicht?

Chambers: Die Mauer war ja noch nicht auf. Von Schabowskis Mitteilung bis zur eigentlichen Maueröffnung dauerte es ja bis halb elf Uhr abends, wenn ich mich nicht täusche. Ich hatte Freunde in Sachsen, denen hatte ich die Adresse in West-Berlin gegeben. Am nächsten Tag klingelte es. Ich weiß noch, wie ich die durch den Türspion sah: Mutter, Vater und zwei Kinder. Das bekam man im Kopf nicht mehr zusammen. Ich kann mir eine Mikrowelle erklären lassen, verstehe, warum das Ding irgendwie kocht, obwohl es drumrum nicht heiß ist. Aber wie die Sachsen an die Tür kommen konnten - das war ein Rätsel. Aber durch die habe ich erfahren, dass die Mauer offen war. Die fuhren die ganze Nacht.

SZ: Sie müssen doch gedacht haben, das Schicksal nimmt Sie auf den Arm?

Chambers: Nein. Wir haben uns einfach alle gefreut. Ich wollte sowieso immer nach Berlin. Das Einzige, was ich dachte, war: Die anderen haben alle ihren Hausstand noch. Ich hatte ja viel verschenkt, fast nichts verkauft. Die Spielsachen der Kinder, alles weg.

SZ: Haben Sie einen Ihrer alten Schikaneure jemals wiedergetroffen?

Chambers: I wish. Ich weiß aber durch die Gauck-Behörde, wer die Zuträger der Stasi waren.

SZ: Wie gehen Sie mit denen um?

Chambers: Das sind Menschen, die mit mir zur Schule gegangen sind, die mich auch verraten haben, die nicht mit mir gesprochen haben, weil sie Angst um ihren Job hatten. Ich kann aber nicht mit ihnen brechen. Dann wäre ich kein guter Mensch, dann hätte ich nichts gelernt: darüber, was Geschichte mit Menschen macht. Wer sagt denn, dass ich immer gut war?

SZ: Wie kamen Sie nach Amerika?

Chambers: Als mein Mann und ich sahen, wie viele Möglichkeiten zur Entfaltung es im Westen gibt, haben wir festgestellt, dass wir völlig unterschiedliche Interessen haben. So hat sich unsere Ehe zerschlagen. Über meinen Schwager lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Mit ihm bin ich nach Wisconsin gezogen.

SZ: Und jetzt sind Sie eine amerikanische Familie.

Chambers: Mein Sohn, meine Tochter und ich, wir sind alle noch deutsche Staatsbürger. Hannes trat in der elften Klasse der Nationalgarde bei, das geht. Mittlerweile ist seine Einheit aber im Irak, er auch, stellen Sie sich das mal vor. Am 11. November soll er in Saddam Husseins altem Palast als US-Bürger vereidigt werden. Die Welt ist schon seltsam. Aber auch interessant.

© SZ vom 27.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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