Kino:Als die Bilder Laufwerk lernten

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Auf dem Stuttgarter Fachkongress für digitales Entertainment treffen sich die Größen des animierten Films. Manches, was gestern noch völlig neu war, wirkt da heute schon wieder steinzeitlich.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

"Moment mal, ich hab' ne Rakete gezündet", sagte Woody. Und ab ging die Post. Raketengetrieben donnerte der Cowboy-Sheriff Woody mit seinem Freund Buzz Lightyear, dem Spacecowboy, in Richtung Happy-End - sehr zum Vergnügen der Menschen auf dem Stuttgarter Schlossplatz, die sich am Mittwochabend bei angenehmen Temperaturen vor der Großleinwand versammelt hatten, um die "Toy Story" zu sehen. Kein Wind mehr, kein Regen, anders als an den Tagen zuvor. Es war eine sentimentale Veranstaltung für große und kleine Kinder. Aber war es nicht auch eine sehr altmodische Veranstaltung: eine Menschenmenge vor einer Leinwand?

Die Abenteuer von Buzz Lightyear sind heute schon wieder Steinzeit

Vor 20 Jahren erschien "Toy Story", die Geschichte der beiden melancholischen Cowboys und ihrer Spielzeugfreunde. Das Jubiläum des ersten vollständig am Computer animierten Langfilms wurde gebührend gefeiert beim Stuttgarter Trickfilm-Festival. Es war aber auch Anlass, 20 Jahre vorauszublicken: Werden sich dann noch Menschen treffen, um gemeinsam einen Film zu erleben, in einem Kino, geschweige denn bei Wind und Wetter? Blickt man dann noch auf eine rechteckige "Leinwand"? Die nächste Stufe der digitalen Revolution namens "Virtual Reality" (VR) verheißt uns ja: Der Film ist nicht mehr vor uns, er ist um uns herum. Wir sind im Film. Und jeder von uns ist, eine VR-Brille auf der Nase, darin für sich allein.

Er habe noch sehr viele Geschichten zu erzählen, sagt Bill Reeves, ein Animations-Haudegen vom Studio "Pixar", und er werde niemals auf dieses Rechteck verzichten. Reeves hat 1995 bei Pixar die Rakete von Woody und Buzz Lightyear gezündet. Diese Woche war er angereist, um in Erinnerungen zu schwelgen und die alte Garde zu vertreten beim Fachkongress für digitales Entertainment (FMX). Der Kongress, der größte seiner Art in Europa, findet in Verbindung mit dem Trickfilmfestival statt, ebenfalls seit 1995. 20 Jahre. Lauschte man dem California-Sound von Bill Reeves und seiner Freunde Eben Ostby und Ralph Egglestone, so schien sich der Blick in die Steinzeit zu öffnen.

Die Anfänge bei George Lucas und den Star-Trek-Produktionen. Der Verkauf von "Pixar" an den damals überaus arroganten Apple-Gründer Steve Jobs, der um jeden Preis Hollywood erobern wollte. Computer mit der Leistung heutiger Smartphones. 80-Stunden-Wochen an der Seite von Regisseur John Lasseter, immer wieder Angst: Es geht nicht. Und dann die Erlösung bei den ersten Probevorführungen. Spätestens als Woody sein Streichholz entzündete, um die Rakete zu starten, war das Publikum hin und weg.

Ja, es ging: Das Publikum liebte Figuren, die am Computer geschaffen waren. Die Schöpfer mussten nur selbst diese Figuren lieben. Und sie mussten eine gute Geschichte zu erzählen haben.

Stuttgart ist ein guter Ort, um zu verstehen, wie sich das digitale Entertainment in Deutschland seither entwickelt hat. Das Institut für Animation an der Filmhochschule Stuttgart und die Filmakademie Stuttgart liefern ständig Nachwuchs für Studios, die bei Projekten mit Weltruf mitarbeiten. Mackevision bei "Game of Thrones", Luxx bei Hotel Budapest. In der Anwendung der bestehenden Technik sind die Deutschen Spitze. Doch wenn es um das Erschließen der Virtual Reality geht, eilen wieder die Amerikaner voraus. VR, "the next big thing"?

Um zu verstehen, was Virtual Reality bedeutet, muss man sich auf der FMX in Stuttgart nur eine dieser Monsterbrillen überziehen und einige Minuten auf einem Avenger-artigen Gefechtsfeld verbringen. Kampfroboter hinter und vor dem Zuschauer, der eher ein Mitwirkender ist. Kugeln und Granaten zischen am Kopf vorbei. Umgestürzte Autos links und rechts. Man legt den Kopf in den Nacken und sieht blauen Himmel inmitten von Wolkenkratzern. Gefechtslärm aus allen Richtungen. In Stuttgart ist die Erwartung mit Händen zu greifen, dass hier das nächste große Geschäft wartet. Aber wer zündet die Rakete wie seinerzeit Bill Reeves?

Auf dem Podium der FMX saßen Männer, die von den üblichen amerikanischen Großkonzernen bezahlt werden. Google, Facebook, Microsoft. Deutlich wurden bei all den Debatten die Probleme, diese Technik auf das Kino anzuwenden. Der Nutzer der Zukunft mag im Raum um sich herum Daten verwalten, Mails schreiben, Spiele spielen, Landschaften erleben. Aber wie soll man ihn durch einen Spielfilm lotsen - wenn er in jeder Sekunde doch frei ist, wohin er sich in seiner virtuellen Realität wendet. "Sehr individuell" würden jedenfalls die Erlebnisse der Zuschauer sein, sagte Alex Laurant, der sich für Microsoft mit der Produktion von VR-Inhalten beschäftigt. Denn auch dies könnte die Zukunft sein: Jeder Film hätte so mehr als nur ein Ende. So könnte Woody auch abstürzen.

© SZ vom 08.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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