Spektakulärer Kriminalfall:400 000 Franzosen fordern Gnade für eine Mörderin

French President Francois Hollande attends a ceremony in the courtyard of the Hotel des Invalides in Paris

Begnadigungen hält er für archaisch - dennoch könnte der französische Präsident Hollande eine Ausnahme machen. Auch in Hinblick auf den Wahlkampf.

(Foto: Philippe Wojazer/Reuters)
  • In Frankreich könnte eine verurteilte Mörderin bald freikommen.
  • Der Fall bewegt das Land, 400 000 Franzosen bedrängen Präsident Hollande, die Frau zu begnadigen.
  • Es geht um Jacqueline Sauvage, die von ihrem Ehemann jahrelang misshandelt worden war und ihn schließlich tötete.

Von Christian Wernicke, Paris

Es war Mord. Auch Jacqueline Sauvage, die Täterin, bestreitet das nicht. Und doch könnte sie sehr bald freikommen. Denn die "Causa Sauvage" ist längst ein politischer Fall geworden: 400 000 Franzosen, darunter zahllose Prominente, bedrängen per Petition Präsident François Hollande, die 68-jährige Frau aus dem Gefängnis zu befreien. Per Gnadenakt.

Hollande reagiert. Am Freitag empfing das Staatsoberhaupt Sauvages drei Töchter und die beiden Anwältinnen im Élysée. Aber der Sozialist zaudert, schwankt zwischen Prinzip und Mitgefühl. Eigentlich verabscheut Hollande sein Gnadenrecht als Privileg aus monarchischen Zeiten. Andererseits weiß der Mann, der zuletzt nur als gestrenger Anti-Terror-Präsident auftrat: Milde wäre populär.

Das Gericht hat Sauvage zu zehn Jahren Haft verurteilt

Denn seine Landsleute hat das Schicksal der Jacqueline Sauvage aufgewühlt. Ihr Leid und ihre Tat. All das ist bekannt seit dem Berufsverfahren vor zehn Wochen: Da hat die blasse Frau geschildert, was geschah an jenem 10. September 2012 in La Selle sur le Bied, einem Weiler achtzig Kilometer östlich von Orléans.

Norbert Marot, seit 47 Jahren ihr Ehemann, hatte sie geschlagen und getreten. Schon wieder, oder: wie immer. Jacqueline Sauvage war ins Schlafzimmer geflohen, hatte Medikamente genommen, etwas gedöst. Dann aber, kurz vor 19 Uhr, war sie wach. Und sie wusste, wo im Haus das Jagdgewehr lag. Das hat sie geladen, ehe sie hinausging auf die Terrasse. Da hockte ihr Mann. "Er saß mit dem Rücken zu mir. Ich hab mich genähert, hab' die Augen zugemacht", so sagte Sauvage aus, "und ich habe geschossen." Drei Mal. Dann rief sie die Polizei: "Kommen Sie, ich habe meinen Mann getötet."

Das Gericht hat Sauvage zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die Angeklagte weinte, aber sie nahm den Richterspruch hin. Andere taten das nicht. Künstler, Frauenrechtler und Politiker aller Couleur - die rechte Marine Le Pen, der konservative Ex-Premier François Fillon, der Grüne Daniel Cohn-Bendit, der Linke Jean-Luc Mélenchon - verlangen vom Präsidenten, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

Als Sauvage mit 14 Norbert Marot traf, glaubte sie an die große Liebe. Mit 25 war sie vierfache Mutter - und alltäglich Opfer ehelicher Gewalt: "Unsere Mutter hat ihre Leben lang in dieser Partnerschaft gelitten", bezeugen die drei Töchter, "sie war Opfer unseres Vaters - eines brutalen, tyrannischen, perversen Mannes." Vor Gericht schilderten die drei Kinder, wie Marot später auch sie, seine Töchter, verprügelt und sexuell missbraucht hatte. Alle schwiegen. Aus Scham, aus Angst.

50 000 Frauen melden jedes Jahr anonym per Telefon Gewalttaten ihrer Partner, die Dunkelziffer liegt wohl viermal so hoch, mindestens. Seit 2006 starben 1200 Frauen als Opfer ihrer Männer. Viermal lag Sauvage verletzt in einer Notaufnahme - aber kein Arzt zeigte die Gewalt an. Nun will eine Gruppe vor allem weiblicher Abgeordneter das Strafrecht ändern. Bisher können nur Frauen ein Recht auf Selbstverteidigung reklamieren, die in akuter Lebensgefahr töten. Jacqueline Sauvage jedoch habe jahrzehntelang in Todesangst gelebt - weshalb ihre Tat "zeitlich versetzte Selbstverteidigung" gewesen sei.

Aktuelles Lexikon - Gnade

Weh dem, der Gnade braucht! Die Kritik, die darin steckt, weist zurück auf die Welt des Absolutismus. In einer Zeit, in der keine rechtsstaatlichen und demokratischen Machtkontrollen existierten und die Macht angeblich von Gottes Gnaden verliehen war, war Begnadigung ein Akt autoritärer Willkür. Der Herrscher konnte nach Gutdünken Gesetze anwenden, missachten, verschärfen oder abmildern, nach Belieben strafen und Gnade erweisen. Dieser Wurzel wegen gilt das Gnadenrecht bisweilen als Fremdkörper im Rechtsstaat. Das war bisher auch Ansicht des Präsidenten François Hollande, der das Gnadenrecht, das in Frankreich wie in anderen Staaten dem Staatsoberhaupt zusteht, nicht ausüben wollte. In demokratischen Rechtsstaaten gibt es Gesetze, zumindest aber Kriterien für die Ausübung dieses Rechts. Gnade geht hier nicht "vor Recht", sondern " nach Recht". Begnadigung im Einzelfall (in Vielzahl heißt sie Amnestie) gibt es meist nur nach Teil-Verbüßung einer Strafe. Das ist kein Widerruf des Urteils, sondern Akt der Menschlichkeit von Staats wegen. In Deutschland haben die Bundespräsidenten den RAF-Terroristen nach langen Jahren der Haft Gnade gewährt. In Frankreich wird erwartet, dass Hollande eine Frau begnadigt, die ihren Mann, einen furchtbaren Haustyrannen, ermordet hat.

Heribert Prantl

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