Flüchtlinge:Tote im Mittelmeer: Europa ist zum Hinschauen verpflichtet

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Mitarbeiter des libyschen Roten Halbmonds bergen angespülte Leichen an der libyschen Küste (Foto: AFP)

Es gibt kein Allheilmittel, das das Flüchtlingsdrama stoppen könnte. Notwendig sind viele kleine Schritte - und dass jeder von uns seine Gleichgültigkeit überwindet.

Kommentar von Stefan Ulrich

Was haben das Meer und die Medien gemeinsam? Sie verschlucken Tragödien in kurzer Zeit. Vergangene Woche kämpften Tausende Menschen auf dem Mittelmeer gegen das Ertrinken an. Mehrere große Boote gingen unter. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen berichtete von mindestens 880 Todesopfern. Manche Menschen wurden, wie am Freitag, als Leichen an die Strände Libyens gespült, andere bleiben für immer vermisst. Das Meer schließt sich über ihnen, als wäre nichts geschehen; und auch die Medien gehen immer schneller zur Tagesordnung über, als sei nichts älter als die Leichen von gestern.

Vor ein, zwei Jahren ging noch ein Aufschrei durch Europa, wenn Hunderte Flüchtlinge bei einem Schiffsunglück starben. EU-Spitzenpolitiker flogen auf die italienische Insel Lampedusa, warfen Kränze ins Wasser, beklagten das Massensterben als "Schande Europas" und versprachen Besserung. Doch die Anstrengungen, die es durchaus gibt - Rettungseinsätze im Meer, Fahndung nach Schleppern, Abkommen mit der Türkei, Hotspots, Quotenbeschluss für die Aufnahme in den EU-Staaten - sind heillos unzureichend. Jetzt, da der Sommer naht und zur Überfahrt lockt, wütet wieder der Tod auf dem Meer.

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Illusionen fördern die Resignation nur

Der Schock darüber ist einer gewissen Resignation gewichen. Medien und Publikum verfallen in Katastrophen-Routine. Der Vorrat an Empathie scheint zur Neige zu gehen. Angesichts des "Flüchtlingsstroms", der Verteilungs- und Integrationsprobleme und des Erstarkens rechtsnationalistischer Parteien versinkt auch das Mitleid im Mittelmeer. Natürlich nicht bei allen Europäern. Aber bei immer mehr.

Eine Erklärung dafür ist, dass sich der Mensch mit der Zeit an fast alles gewöhnt. Eine andere, dass der Glaube an eine "Lösung des Flüchtlingsproblems" gestorben ist. Wer realistisch sein will, muss eingestehen, dass es diese Lösung tatsächlich nicht gibt - jedenfalls nicht kurz- oder mittelfristig. Wer anderes behauptet, und das wird weiterhin getan, weckt nur Illusionen, die dann in Enttäuschung und Apathie umschlagen.

Hilfe für Herkunftsländer, damit Menschen nicht mehr fliehen müssen? Das ist auf Dauer der Königsweg. Doch er ist lang und steil. Seit Jahren gelingt es nicht, den Krieg in Syrien zu beenden. Afghanistan kommt, trotz größter Anstrengung vieler Staaten, nicht zur Ruhe. Und wie soll man Ländern helfen, die von gemeingefährlichen Regierungen unterjocht werden, wie Eritrea oder der Sudan?

Kooperation mit den Mittelmeeranrainern, nach dem Vorbild des Deals mit der Türkei? Libyen, von wo aus jetzt so viele Boote starten, hat das gerade abgelehnt. Bessere Überwachung der Küsten und des Meeres? Geschieht bereits. Dennoch finden Schleuser immer wieder Lücken, und Rettungsboote kommen zu spät.

Sichere Wege nach Europa, die manchen als Allheilmittel erscheinen? Sie sind es nicht. Zwar müssen die EU-Staaten ihre Einwanderungs- und Asylpolitik so reformieren, dass mehr Migranten und Flüchtlinge gefahrlos kommen können. Aber das ist keine Lösung für alle. Richteten die EU etwa eine Fährverbindung vom libyschen Sabratah nach Sizilien ein, würden sich noch viel mehr Afrikaner auf die oft tödliche Reise durch die Sahara machen.

Griechenland versprochene Hilfe schicken

Was Europa bleibt, sind mühsame kleine Schritte, wozu es gehört, endlich die versprochenen Fachkräfte nach Griechenland zu schicken. Schwieriger, aber notwendig, ist es, alle EU-Staaten dazu zu bringen, sich fair an der Hilfe für Flüchtlinge zu beteiligen. Hier kommen wieder die Medien ins Spiel. Sie müssen die Aufmerksamkeit immer wieder auf Not und Tod richten.

Das Mittelmeer mag nach jeder Havarie rasch wieder friedlich unter der Sonne glänzen. Europa steht das nicht zu.

© SZ vom 06.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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