Familiendrama in Frankreich:Mit tödlicher Akribie

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Mal gab er sich als Geheimagent aus, mal sprach er von Auswanderung. Dann fand die Polizei fünf Leichen in seinem Garten. Ein Franzose soll die Ermordung seiner Familie minutiös geplant und sich abgesetzt haben. Führte er ein Doppelleben?

S. Ulrich, Paris

Es ist ein Bild aus womöglich glücklichen Tagen: Xavier Dupont de Ligonnès hat die Arme beschützend um seine lachende Tochter Anne geschlungen. Heute ist der Vater verschwunden. Anne ist tot. Die Polizei fand die Leiche der 16 Jahre alten Schülerin in einen Sack gehüllt und mit Kalk bedeckt unter der Terrasse des Reihenhauses der Familie im westfranzösischen Nantes.

Als die Leichen seiner Frau und der gemeinsamen vier Kinder verscharrt unter der Terrasse des Reihenhauses der Familie gefunden wurden, war der tatverdächtige Vater längst untergetaucht. Er wird international gesucht. (Foto: REUTERS)

Neben Anne lagen die Körper ihrer Geschwister Benoît, 13, Thomas, 18, und Arthur, 20, sowie der ihrer Mutter Agnès, 48. Alle waren aus nächster Nähe mit je zwei Schüssen aus einem Gewehr des Kalibers 22 im Schlaf getötet worden. Der Vater ist nun der meistgesuchte Mann Frankreichs. Dutzende Kriminalpolizisten versuchen, dem mysteriösen Mann auf die Spur zu kommen und zu ergründen, wer dieser Xavier Dupont de Ligonnès eigentlich ist.

Offiziell wird der stets elegant gekleidete 50-Jährige mit dem schmalen Gesicht bislang nur als Zeuge gesucht. Die Mordermittlungen laufen gegen unbekannt. Doch der Verdacht, der auf dem Vater lastet, wiegt schwer. Indizien sprechen dafür, dass er die Tat akribisch vorbereitet und strikt nach Plan ausgeführt hat. Womöglich verschafft er sich nun eine neue Identität; oder er hat Selbstmord begangen; oder er bringt weitere Menschen in Gefahr. Vielleicht ist er aber auch unschuldig, sieht sich zu Unrecht verfolgt.

Offene Fragen gibt es viele in diesem Fall, und die Antworten, die zahlreiche Zeugen der Polizei geben, tragen eher zur Verwirrung bei. Glaubte man den Aussagen, die bei der Kripo eingingen, so hätte sich Dupont de Ligonnès binnen 48 Stunden an 40 verschiedenen Orten aufgehalten - wahlweise mit oder ohne eine blonde Frau an seiner Seite. Zudem verdunkelte er in der Vergangenheit in Gesprächen und Briefen selbst seine Spur.

Mal gab er an, mit seiner Familie nach Australien auszuwandern. Mal offenbarte er Bekannten, er sei ein Geheimagent der USA, müsse in einem Drogenprozess aussagen und dann abtauchen. Die Geschichten, die dieser scheinbar fürsorgliche Familienvater und gläubige Christ in Umlauf setzte, klingen phantastisch. Vielleicht hat sich der Mann mit den vielen Gesichtern heillos darin verstrickt. Allen Hinweisen nachzugehen, könnte eine lange Arbeit werden.

Xavier Dupont de Ligonnès stammt aus Versailles bei Paris. Wie Le Monde unter Berufung auf Ermittlerkreise berichtet, machte sein Vater mit einer Firma bankrott, verließ die Familie und setzte sich nach Afrika ab. Diese Flucht habe den jungen Xavier traumatisiert, vermuten die Fahnder. Er musste sein Studium abbrechen und arbeiten. Später sollte er selbst mehrfach erfolglos Firmen gründen. Als Jahreseinkommen gab er zuletzt 4000 Euro an. Seine letzte Firma existierte anscheinend nur als Briefkasten.

Wie er den Lebensunterhalt seiner sechsköpfigen Familie bestritt, ist eines der Rätsel. Er musste die Miete für das Haus zahlen, die Privatschule für die jüngeren Kinder sowie die Studien der älteren. Zudem besaßen die Dupont de Ligonnès vier Autos, darunter einen schwarzen Golf Cabriolet.

Ansonsten galt die Familie als unauffällig. Die Mutter arbeitete in Teilzeit als Hilfskraft in einer Schule. Am Sonntag besuchte man die Kirche des Heiligen Felix in Nantes. Der jüngste Sohn sang im Kirchenchor. Französischer Alltag in der Provinz. Eines aber war den Nachbarn doch aufgefallen. Vater Xavier war kaum zu Hause. Er fuhr meist Sonntagabend fort und kehrte erst freitags zurück. Gegenüber Bekannten erklärte er, als kaufmännischer Angestellter viel reisen zu müssen. Manchmal blieb er Wochen weg und sagte dann, er sei geschäftlich in Amerika gewesen. Die Justiz stellte jetzt fest: Er war nie in den USA. "Wir wissen nicht, was er in all dieser Zeit machte und wohin er ging", heißt es bei den Ermittlern.

Harmonisch war die Ehe nicht. Agnès beklagte sich in Internetforen unter Pseudonym, ihr Mann sei "zu spröde, zu streng". Er kommandiere die Familie herum und lasse sie zu oft allein. Zudem habe er alles Geld durchgebracht. "Ich bin allein", klagte Agnès im Netz. "Verzweifelt allein." Die Ehefrau schrieb auch, ihr Mann habe gesagt, es wäre keine Katastrophe, wenn die ganze Familie stürbe.

Am Dienstag zogen Freunde der Familie mit weißen Blumen durch Nantes und legten sie anschließend vor dem Reihenhaus ab, in dessen Garten die Leichen gefunden worden waren. (Foto: dpa)

Ende vergangenen Jahres trat der Familienvater einem Schützenverein bei. Er übte eifrig - mit einem Gewehr des Kalibers 22. Auch fragte er nach Schalldämpfern. Die Polizei ermittelte, dass er Kalk und Schaufeln kaufte. Anfang April meldete der Vater seine Kinder in der Schule krank. Später schrieb er, die Familie wandere nach Australien aus. Ähnliches teilte er dem Freundeskreis mit. Ein Gerichtsvollzieher fand das Haus am 5. April verschlossen. Die Polizei stellte später fest, dass die Betten abgezogen und die Schränke ausgeräumt waren. Am Briefkasten hing ein Zettel mit der Aufforderung, die Post an die Absender zurückzuschicken.

Die Gerichtsmediziner vermuten, dass die Mutter und ihre Kinder in den ersten Apriltagen erschossen wurden. Xavier Dupont de Ligonnès stieg am 13. April - Tage bevor die Polizei die Leichen fand - in einem Fünf-Sterne-Hotel in der Nähe von Avignon ab. "Er war zu jedem sehr nett, schien keine Sorgen zu haben und sehr entspannt zu sein", erzählte eine Angestellte. Die Nacht darauf verbrachte der Gesuchte in einem Autobahnhotel im Département Var, in dem die Familie früher gelebt hatte. Auf einem Parkplatz in der Nähe wurde sein Citroën gefunden. Wo er selbst hinging, ist unbekannt.

Seit dem 14. April ist im Département Var auch eine 50-jährige Frau verschwunden. Unheimlicher Zufall? Zudem meldete sich gerade eine Unternehmerin bei der Polizei. Sie will eine Affäre mit Dupont de Ligonnès gehabt und ihm 50000 Euro geliehen haben. Da er das Geld nicht zurückzahlte, verklagte sie ihn. In der Folge will die Frau Drohbriefe von ihm erhalten haben. Zuletzt sei am 9. April ein Schreiben mit dem Satz eingegangen: "Wir haben eine gute Zeit zusammen gehabt, jetzt wirst du das Unglück kennenlernen."

Am Dienstag zogen Freunde der Familie mit weißen Blumen durch Nantes, um die Toten zu ehren. Angehörige veröffentlichten eine Traueranzeige im Figaro. Vom "tragischen Tod" der Mutter und ihrer vier Kinder ist darin die Rede. Die Totenmesse werde am Donnerstag in der Kirche des Heiligen Felix gehalten. Dann steht da noch die Bitte: "Keine Blumen, keine Kränze."

© SZ vom 27.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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