Erster Auftritt nach der Freilassung:Was Debra Milke nach 24 Jahren Gefängnis zu sagen hat

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Debra Milke bei der Pressekonferenz in Phoenix. (Foto: Ralph D. Freso/Reuters)
  • Debra Milke wurde zu Unrecht beschuldigt, zwei Männer zum Mord an ihrem vier Jahre alten Sohn angestiftet zu haben.
  • Nach 24 Jahren Haft, 22 davon im Todestrakt, kam die in Berlin geborene Amerikanerin nun frei.
  • Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt spricht spricht sie auch über die Ermittlungsfehler der Polizei: Ein Beamter hatte unter anderem ihre Zeugenaussage manipuliert, um den Schuldspruch zu erreichen.

Von Nicolas Richter, Washington

Den größten Spaß hatte der kleine Christopher mit Kaugummi. Seine Mutter sollte einen "bubble gum" essen und ihn zu einer großen Blase aufpusten. "Dann hat er seinen Finger in die Blase gesteckt und der ganze Kaugummi legte sich über mein Gesicht", erzählt seine Mutter. "Er kicherte und bat mich, es gleich zu wiederholen." Das sind die Erinnerungen von Debra Milke an ihren Sohn, als er vier Jahre alt war.

Es sind danach allerdings keine weiteren Erinnerungen dazugekommen, denn ihr Sohn ist im Alter von vier Jahren ermordet worden. Zwei Männer, unter ihnen ihr damaliger Freund, haben den Jungen erschossen. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, sagt Debra Milke, als das eigene Kind an einen Mörder zu verlieren. Schlimmer sei es nur, wenn einen die Justiz verdächtige, dass man sein Kind selbst ermordet habe. Genau dies ist Debra Milke passiert.

Ein Strafgericht in Arizona hat die in Berlin geborene Amerikanerin im Jahr 1990 zum Tode verurteilt - zu Unrecht, wie sich später herausstellte. Sie hat 24 Jahre in Haft verbracht, 22 davon im Todestrakt. Am Dienstag hat sie bei einer Pressekonferenz mit ihren Anwälten Michael Kimerer und Lori Voepel in Phoenix zum ersten Mal in der Öffentlichkeit gesprochen. Gleich zu Beginn beteuerte Milke ihre Unschuld: "Als Erstes möchte ich sagen, dass ich absolut nichts mit dem brutalen Mord an meinem Sohn Christopher zu tun habe." Sie habe immer gewusst, dass ihre Unschuld eines Tages anerkannt würde, nicht aber, dass es so lange dauern würde, "diesen Fehlschlag der Justiz zu korrigieren."

Milke, inzwischen 51, trägt eine Brille, Perlenkette, das weiße Haar sorgfältig frisiert. Sie wirkt gefasst, aber noch immer verletzlich. Sie liest vom Blatt ab, oft versagt ihre Stimme. Einmal, als sie ihren Sohn erwähnt, muss sie lange innehalten, dann sagt sie: "Ich lebe mit einem dauernden Verlustgefühl." Sie beklagt da noch gar nicht die Freiheit, die ihr genommen wurde, sondern ihren Verlust als Mutter.

In diesem Fall hat die Polizei gleich doppelt versagt

Am 3. Dezember 1989, in Deutschland war gerade die Mauer gefallen, wollte Milke auf einer Polizeiwache in Florence, Arizona, aussagen, weil ihr Sohn verschwunden war. Es erschien Detective Armando Saldate vom Phoenix Police Department, aus der Hauptstadt Arizonas eigens eingeflogen mit dem Hubschrauber. Saldate schickte alle Zeugen aus dem Vernehmungszimmer und zeichnete das Gespräch nicht auf. Als die Unterredung vorbei war, behauptete er, Milke habe gestanden. Sie habe ihren Sohn ermordet.

Die Geschworenen glaubten ihm und verurteilten Milke zum Tode. Aber sie wussten nicht, was den Vorgesetzten Saldates und sogar der Staatsanwaltschaft längst bekannt war: Der Detective hatte in mehr als 20 Dienstjahren immer wieder die Rechte von Verdächtigen missachtet, Geständnisse erzwungen und unter Eid vor Gericht gelogen. Polizei und Justiz in Arizona geben sich gern als besonders unerbittlich, aber im Fall Milke haben sie gleich doppelt versagt: Erstens versäumten sie es, den notorisch unzuverlässigen Saldate aus dem Dienst zu entfernen, zweitens vertuschten sie Saldates Verfehlungen und schickten Milke in den Todestrakt, statt ihn zu belangen.

"Böse Cops und all jene, die sie tolerieren, bringen uns alle in eine unmögliche Lage", sagte Milke am Dienstag, und dies war nicht ihre eigene Meinung, sondern ein Zitat des Berufungsrichters Alex Kozinski. Der hatte Milkes Fall im Frühjahr 2013 überprüft und das Urteil gegen sie verworfen. Besonders schwer wiege das Versagen der Staatsanwaltschaft, erklärte der Berufungsrichter: Laut Verfassung hätten die Ankläger im ursprünglichen Strafprozess nicht nur alle belastenden, sondern auch alle entlastenden Beweise offenlegen müssen. Dazu hätte die lange Liste der Verfehlungen Saldates gehört.

Warum der Mord geschah, ist bis heute unklar

Weil der Staat Arizona bis zuletzt einen neuen Prozess gegen Milke forderte, hat es noch zwei weitere Jahre gedauert, also bis zum Montag dieser Woche, bis das Strafverfahren gegen Debra "Debbie" Milke endgültig eingestellt wurde. Als Täter wurden in der Zwischenzeit zwei Männer verurteilt, Milkes damaliger Mitbewohner sowie dessen Freund. Weil sich deren Aussagen widersprechen, ist bis heute nicht ganz klar, warum sie den Jungen damals ermordet haben. Für die Theorie der Staatsanwaltschaft aber, dass Milke die Männer zu der Tat angestiftet habe, um ihren Sohn loszuwerden, fand sich nie auch nur ein Beweis.

Inzwischen hat Milke ein Dutzend Beamte und Behörden in Arizona verklagt. Sie wirft Polizei und Justiz vor, sie zu Unrecht beschuldigt und Beweise manipuliert zu haben. So habe Saldate behauptet, sie habe gefühllos auf die Nachricht vom Tod ihres Sohnes reagiert. Er habe auch Zeugen zu der Aussage gedrängt, sie sei eine schlechte Mutter gewesen. Statt Saldate wegen seiner Verfehlungen zu suspendieren, hätten ihn dessen Vorgesetzte sogar befördert und ihm die heikelsten Fälle anvertraut. Milke warnte die Öffentlichkeit, dass das, was ihr passiert sei, "jedem von Euch passieren könnte".

Milke dankte ihren Anwälten und "Tausenden Menschen", die immer an ihre Unschuld geglaubt und sie aus der Ferne unterstützt hätten. "Mein Herz ist gefüllt mit enormer Dankbarkeit", sagte Milke. Sie hat Jahrzehnte ihrer Freiheit verloren und ihren Sohn. Die Erinnerungen an ihn immerhin sind ihr geblieben. "Niemand", sagt sie, "kann sie mir jemals nehmen".

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