Dokumentation über die Odenwaldschule:Gewalt im Gewand der Freiheit

"Der Mensch muss sich mit seiner Triebwelt befreunden": Eine Dokumentation zeigt die Hintergründe im Missbrauchsskandal an der Reformschule im Odenwald auf - und zeichnet das Bild einer "geschlossenen Gesellschaft".

Tanjev Schultz

Als Astrid Lindgren den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekam, hielt Gerold Becker die Laudatio. Das war 1978, heute sieht man die Bilder von damals mit Grausen. Becker leitete die Odenwaldschule, das berühmte Internat in Hessen, ein Hort vermeintlich fortschrittlicher Pädagogik.

Odenwaldschule in Heppenheim

Ein Netzwerk der Täter: Die Dokumentation "Geschlossene Gesellschaft" widmet sich den Hintergründen des Missbrauchsskandals an der hessischen Odenwaldschule.

(Foto: dpa)

Tatsächlich vergingen sich Becker und andere Lehrer täglich an ihren Schülern. Ausgerechnet dieser Becker sang mit großer Geste ein Loblieb auf Lindgren, die große Kinderbuchautorin. Der Mensch müsse sich "mit seiner Triebwelt befreunden", sagte Becker. Das Publikum ahnte nicht, welche Taten sich hinter diesem Satz verbargen.

Die Szene ist zu sehen in einem Dokumentarfilm, der den Missbrauch an der Odenwaldschule eindringlich schildert. Die Autorinnen filmten bereits die ersten Gespräche, in denen Ehemalige vor zwei Jahren das Schweigen brachen. Der Film beeindruckt auch wegen der historischen Aufnahmen, von denen viele noch nie zu sehen waren.

Zu beobachten ist Gerold Becker, wie er im Norwegerpulli mit den Schülern Gymnastik macht. Der Zuschauer sieht Hartmut von Hentig, Beckers Lebensgefährten, über das Gelände schreiten. Und er bekommt ein paar Einblicke in die leicht chaotischen Zimmer der Jugendlichen, die hier in den siebziger Jahren zur Schule gingen.

Viele Schüler fühlten sich durchaus wohl dort. Aber mindestens 132 von ihnen sind Opfer sexueller Gewalt geworden. So steht es im Bericht der beiden Ermittlerinnen, die 2010 von der Schule eingesetzt wurden.

Die unrühmliche Rolle des Hellmut Becker

Es ist bereits der zweite große Dokumentarfilm über die sexuelle Gewalt im Odenwald. Die Beiträge ergänzen sich gut. Während die Dokumentation Und wir sind nicht die Einzigen (Christoph Röhl) die Opfer ausführlich erzählen lässt, deckt Geschlossene Gesellschaft auch die historischen Hintergründe auf. Die Filmemacherinnen Luzia Schmid und Regina Schilling beleuchten beispielsweise die unrühmliche Rolle des Juristen Hellmut Becker, der Anfang der 1960er Jahre das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gründete und zur Politik und den Eliten des Landes beste Kontakte pflegte.

Hellmut Becker war, obwohl nicht mit ihm verwandt, Gerold Beckers großer Förderer. Er war eine der wichtigsten Figuren in der Bildungspolitik der Nachkriegszeit. Hinweise auf sexuelle Übergriffe an der Odenwaldschule nahm er nicht ernst, obwohl sogar sein eigenes Patenkind betroffen gewesen sein soll.

So entsteht das beklemmende Bild einer "geschlossenen Gesellschaft". Es herrschte ein Korpsgeist, der eine Aufklärung jahrzehntelang verhinderte. Oberflächlich betrachtet war das Internat im Odenwald eine liberale Schule. Dort wurde, wie es im Film heißt, "gesoffen, geraucht, gekifft und gevögelt". In Wirklichkeit war es eine totale Institution, in der sich Macht und Gewalt im Gewand der Freiheit tarnten.

Geschlossene Gesellschaft - Der Missbrauch an der Odenwaldschule: Dienstag, ARD, 22.45 Uhr.

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