Debattenkultur:Die Schweiz ist empört!

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Man nennt sie auch First World Problems: Auf dem Zürichsee hornen die Schiffe zu viel oder zu wenig, die Sonnenschirme sind nicht standfest genug, die Kuhglocken bimmeln zu laut - von den Verstößen gegen die Regeln zur Papierentsorgung ganz zu schweigen. (Foto: Mauritius Images (4), dpa (2))

Ein Militärmusiker verpasst seinen Einsatz, in Zürich fallen Schirme um, der Papiermüll ist falsch gebündelt: Zwischen Genf und St. Gallen wird aus dem kleinsten Problem eine Riesenaufregung. Wobei - was heißt hier klein?

Von Charlotte Theile, Zürich

Über die Schweizer gibt es einige Klischees, die meisten sind ziemlich positiv. Ordentliche, gewissenhafte, seriöse Leute; die Züge sind pünktlich, die Tunnel halten Hunderte, vielleicht Tausende Jahre. Doch es gibt auch weniger schmeichelhafte Vorurteile. Die Schweizer, heißt es, machen aus jeder Kleinigkeit eine Riesen-Aufregung. Und: Wenn sich der Schweizer einmal aufregt, dann ausdauernd und mit großer Ernsthaftigkeit.

Ein aktuelles Beispiel handelt von Christian Carisch, 24, Militärmusikant bei der Schweizer Armee. Vor einigen Wochen beging er einen folgenschweren Fehler: Beim Zapfenstreich im Bündner Städtchen Landquart verpasste er seinen Einsatz. Das Schlagzeugsolo setzte einen Takt zu spät ein. Man muss kein Militärmusiker sein, um zu wissen, dass Zwischenfälle dieser Art in der besten Armee vorkommen. Carisch aber hat das Pech, Bürger eines Landes zu sein, in dem man die Dinge nur selten auf sich beruhen lässt. Der Militärschlagzeuger erhielt eine Disziplinarstrafe, 150 Franken. Es liege ein "leichter Fall von Nichtbefolgung der Dienstvorschriften vor", heißt es in dem offiziellen Papier, über das sich inzwischen Tausende Menschen im Internet empören.

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Es scheint, als habe die Schweiz nur First World Problems

Eine absurde Sommerloch-Geschichte? Nicht für die Schweizer. Der Fall Carisch hat innerhalb weniger Stunden Hunderte Kommentare generiert, die Facebook-Seite des Mitbewohners, der gegen die Disziplinarverfügung protestiert, dürfte gerade eine der meistgeklickten Seiten der Schweiz sein. Es scheint, als habe die Schweiz keine echten Nöte, keine Nachrichten, keine Skandale, nur Probleme für Menschen, die keine existenziellen Sorgen haben, sogenannte First World Problems. Davon aber eine ganze Menge.

Auf der Homepage des Gratis-Blatts 20 Minuten finden sich täglich Beispiele. Eine Auswahl: Zürich hat auf einem der prominentesten Plätze der Stadt Sonnenschirme aufstellen lassen. Kantenlänge drei Meter, Gewicht sechzig Kilogramm, Farbe weiß, Sinn und Zweck: der "Entvölkerung" des Platzes bei Hitze entgegenwirken. Der Chef des Tiefbauamts packte beim Aufstellen selbst mit an. Viele Reporter waren live dabei, die Bevölkerung wurde befragt: Was halten Sie von den neuen Schattenspendern? Die meisten Leute fanden sie gut.

Dann kam der Wind. Einige Schirme fielen um. Mancher ärgerte sich. "Die Schirme sind nicht stabil genug!" Die Zeitungen drehten die Sache weiter, immer mit dem Hinweis, es handele sich um einen Pilotversuch. Die Ergebnisse der Operation Schirm sollten im Herbst ausgewertet werden. Am vergangenen Dienstag dann der Knall: Die Schirme werden vorzeitig abgeräumt, verkündeten die Nachrichtenhäuser per Eilmeldung.

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Zwei Wochen davor: Eine 85-jährige Dame wird zur Heldin des Landes. Todesmutig schwimmt die Frau im Zürichsee auf die Schiffe zu, es sind großartige Bilder, David gegen Goliath. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt vom "zivilen Ungehorsam", anonyme Zuschauer applaudieren, die Frau selbst ist irgendwann zu erschöpft für Medientermine. Ziel ihrer Mission ist es, die Schiffe zum Hornen (tuten) zu bringen. Seit Anfang Juli gilt am Zürichsee ein Verbot, das Schiffshorn, wie jahrzehntelang üblich, beim Anlegen und Abfahren zu betätigen. Nur noch bei Gefahr dürfen die Kapitäne hornen, ein Anwohner hatte geklagt, er fühlte sich von dem Lärm belästigt. Der Triumph der alten Dame: Der Gefahrenton, den sie mit ihrem Schwimmen provoziert, dauert vier Sekunden, der verbotene Anlege-Gruß nur etwa eine Viertelsekunde. So werden in der Schweiz Schlachten gewonnen.

Nun könnte man sagen, ist doch wunderbar, wenn eine Gesellschaft derart gefestigt ist, dass politisches Engagement nur noch nötig ist, um das lieb gewonnene Schiffhorn wiederzubeleben, wenn Menschen Zeit haben, sich über die Beschaffenheit von Sonnenschirmen zu echauffieren und über einen Schlagzeuger zu debattieren, der seinen Einsatz verpasst hat. Tatsächlich aber ist es eine Zumutung, nicht nur aus journalistischer Perspektive. Denn die Debatten werden nicht in dem Plauderton geführt, den sie verdient hätten. Stattdessen ist von zivilem Ungehorsam die Rede, von Militärmusikanten, von Entvölkerung. Auch das Verb "hornen" zeigt: Die Sache ist ernst.

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Vor etwa zwei Jahren, irgendwann im Winter, stellten die Schweizer Bundesbahnen (SBB) ihre Abo-Karten für Vielfahrer um. Statt einer Bahncard "all inclusive", die man dem Schaffner nur zeigen musste, bekam man einen "Swiss Pass" zugestellt, den der Kontrolleur mit einem Lesegerät scannen musste. Es folgte ein Aufschrei: Diese neue Praxis sei gesundheitsgefährdend, gerade im Winter könne der Schaffner Grippeviren verbreiten. Der öffentliche Nahverkehr ist ohnehin ein Thema für sich. Wann immer die SBB mehr als fünf Minuten zu spät kommt oder ein umstrittenes Plakat aufhängt, befindet sich das Land im Ausnahmezustand.

Eine Türkin wird nicht eingebürgert - sie weiß nicht, wo man Altöl entsorgt

Noch schlimmer wird es bei den sogenannten großen Themen: Man merkt es, wenn man mit einem Schweizer über Einkaufstouristen spricht. Also die Landsleute, die ihren Wochenendeinkauf im nahe gelegenen (und deutlich billigeren) Ausland erledigen. Oder wenn man nach der Positionierung des Gegenübers im sogenannten Kuhglockenstreit fragt. Oder, aber das ist nur für Fortgeschrittene, wenn man seinen Papiermüll unsortiert in einer Papiertasche vor die Tür stellt, wenn die Abfuhr kommt. Das richtige Bündeln (A4-Päckchen, Kante auf Kante gelegt) gehört hier zu den wichtigsten Fähigkeiten, die man seinem Kind mitgeben kann.

Und noch ein jüngerer Skandal aus der Schweiz, dieses Mal ein echter: Die 25-jährige Türkin Funda Yilmaz, in der Schweiz geboren, schweizerisch sozialisiert, wird nicht eingebürgert. Zwei Gründe dafür: Sie weiß nicht, wo man in ihrer Gemeinde Altöl entsorgt. Und sie erledigt ihre Einkäufe im Discounter und nicht im Dorfladen. Durchs Land ging ein Aufschrei, die zuständige Kommission zeigte sich dennoch uneinsichtig. Bei derart wichtigen Themen wie Müllentsorgung und Einkaufsverhalten könne man keine Nachsicht zeigen.

Jeder Schweizer kennt den Moment, in dem ihm die Proportionen schmerzhaft bewusst werden. Meist ist das nach der Rückkehr aus einem längeren Urlaub. Begeistert berichtet man dann, wie locker die Menschen in anderen Weltgegenden (oder auch nur in Frankreich) das Leben nähmen, wie entspannt sie den Prüfungen des Alltags begegneten und wie unkompliziert andernorts alles sei. Überraschend viele Menschen seien dabei auch noch gut gelaunt. Dem kann man nur entgegenhalten, was die meisten Online-Foren schon lange wissen: First World Problems sind eben auch Probleme.

© SZ vom 12.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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