Darmstadt:Was Sie zum Prozess im Fall Tuğçe wissen müssen

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Auf dem Parkplatz dieses Fastfood-Restaurants in Offenbach wurde Tuğçe niedergeschlagen. (Foto: dpa)
  • An diesem Freitag beginnt in Offenbach der Prozes gegen Sanel M. Der 18-Jährige schlug im November 2014 die Studentin Tuğçe Albayrak nieder. Sie starb später an ihren Verletzungen.
  • Im Prozess geht es vor allem darum, zu klären, was vor dem Schlag geschah.
  • Unter den 60 geladenen Zeugen sind auch die zwei Mädchen, die Tuğçe in Schutz genommen haben soll.

Der Fall

In den frühen Morgenstunden des 15. November 2014 schlägt der 18 Jahre alte Sanel M. auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants in Offenbach der türkischstämmigen Lehramtsstudentin Tuğçe Albayrak aus Gelnhausen nach einem Streit ins Gesicht. Eine Überwachungskamera zeichnet die Tat auf, der junge Mann gesteht später bei der Befragung durch die Polizei, zugeschlagen zu haben. Tuğçe kippt nach hinten, schlägt mit dem Kopf auf den Boden und wird bewusstlos. Durch den Aufprall erleidet die Studentin ein Schädelhirntrauma und Brüche des Schädelknochens, sie fällt ins Koma. An ihrem 23. Geburtstag, dem 28. November, lassen die Eltern die Maschinen abstellen, die Tuğçe bis dahin am Leben halten.

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Der Fall Tuğçe Albayrak geht vor Gericht. Im Prozess gegen den jungen Mann, der im November 2014 ihren Tod verschuldete, geht es um die Frage: Wusste Sanel M., welche Folgen sein Schlag haben könnte?

Von Susanne Höll

Die Anklage

Grund des Streits soll eine Auseinandersetzung in der Damentoilette des Schnellrestaurants gewesen sein - zwischen einer Gruppe um den Angeklagten und zwei 13-jährigen Mädchen. Alle hatten getrunken, angeblich belästigten die Heranwachsenden die Mädchen. Tuğçe soll die Unruhe mitbekommen und die jungen Männer aufgefordert haben, die Toilette zu verlassen, heißt es in der Anklage. Kurz darauf sei der Streit auf dem Parkplatz des Schnellrestaurants eskaliert. Die Gruppen um Sanel und Tuğçe beschimpften einander. Dann schlug der junge Mann der Studentin mit der flachen Hand gegen den Kopf.

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Angeklagte erkannt hat, dass mit seinem Schlag die Gefahr eines Sturzes mit tödlich verlaufenden Verletzungen verbunden sein kann. Die Anklage wirft Sanel M. Körperverletzung mit Todesfolge vor.

Die Verteidigung

Dass Sanel M. zugeschlagen hat, ist unbestritten. Das hat auch sein Anwalt Stephan Kuhn vor Prozessbeginn bestätigt. In dem Verfahren wird es wohl vor allem darum gehen, wie es zu der Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und Tuğçe kam.

Am ersten Prozesstag wird Sanel M. heute vermutlich auf Tuğçes Eltern treffen. "Es wird schrecklich für ihn und für die anderen Beteiligten sein", sagte sein Verteidiger Kuhn vorab. Es gehöre jedoch zur gerichtlichen Aufarbeitung, "dass mein Mandant auch mit den Folgen seiner Tat konfrontiert wird."

Der Anwalt hofft nach eigenen Worten darauf, dass in dem anstehenden Verfahren der Sachverhalt aufgeklärt wird. "Die Emotionen in diesem Fall sind völlig verständlich, aber es geht jetzt um die Feststellung der Tatsachen", sagte Kuhn.

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Der Angeklagte

Sanel M., Offenbacher mit familiären Wurzeln in Serbien, soll in der Tatnacht seinen Geburtstag gefeiert haben - zwölf Tage zuvor war er 18 Jahre alt geworden. Nach den Angaben einer Gerichtssprecherin war Sanel M. vor jener Nacht im November 2014 bereits viermal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Dabei ging es unter anderem um Diebstahl und gefährliche Körperverletzung.

Sanels Anwalt kündigte an, dass sein Mandat sich selbst zur Sache äußern will. Laut Kuhn bereut Sanel seine Tat. "Es tut ihm unglaublich leid."

Der Strafrahmen

Das Strafgesetzbuch sieht für Körperverletzung mit Todesfolge eine Haftstrafe von mindestens drei, in minder schweren Fällen mindestens einem Jahr vor. Wird Sanel M. jedoch nach Jugendstrafrecht verurteilt, kann er mit einer milderen Strafe rechnen - der Rahmen liegt dann zwischen sechs Monaten und zehn Jahren Gefängnis. Das Jugendstrafrecht orientiert sich am Erziehungsgedanken. "Kriterium ist primär die individuelle Rückfallprävention und nicht die Schwere der Tat", zitiert die Deutsche Presse-Agentur eine Expertin.

Doch welches Strafrecht findet bei Sanel M. Anwendung? Das muss bei einem Heranwachsenden zwischen 18 und 20 Jahren das Gericht entscheiden. Betrachtet wird dabei die Persönlichkeit des Angeklagten. Erweist sich, dass er zur Tatzeit in seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, wird Jugendstrafrecht angewendet. Zur Klärung dieser Frage holt das Gericht eine Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe ein, manchmal werden Gutachter befragt. Im aktuellen Fall ist kein Gutachter geladen. Der Prozess beginnt nach den Maßgaben des Jugendstrafrechts, Fachleute halten es für wahrscheinlich, dass dieses bei Sanel M. auch in der Urteilsfindung angewandt wird.

Der Prozess

Der Vorsitzende Richter der Jugendkammer des Landgerichts Darmstadt ist Jens Aßling. Die 10. Große Strafkammer setzt sich aus drei Richtern und zwei Schöffen zusammen.

Das Gericht hat zehn Verhandlungstage angesetzt und 60 Zeugen geladen. Außerdem sind zwei Rechtsmediziner bei der Verhandlung dabei. Das Urteil könnte bereits am 15. Juni, genau sieben Monate nach der Tatnacht, gesprochen werden.

Bei Heranwachsenden - zur Tatzeit 18 bis 20 Jahre alt - ist ein Verfahren grundsätzlich öffentlich. Die Kammer kann die Öffentlichkeit aber zum Schutz von Angeklagten oder Zeugen teilweise ausschließen. Dies gilt besonders, wenn die Zeugen minderjährig sind. Diese Regel könnte also greifen, wenn die beiden Teenager aussagen, die in den Streit auf der Toilette des Fast-Food-Restaurants verwickelt gewesen sein sollen.

Die Nebenklage

Als Nebekläger treten der Vater und die Mutter von Tuğçe sowie ihre beiden Brüder (25 und 27 Jahre) auf.

Die Mahnwache

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Von Lena Jakat

Tuğçes Freunde und Unterstützer wollen zum Prozessauftakt gegenüber des Landgerichts eine Mahnwache abhalten. Die Aktion für "Gerechtigkeit und ein gewaltfreies Miteinander" solle an Tuğçe erinnern, heißt es in dem Aufruf des "Tuğçe-Teams" auf Facebook. "Tuğçes Schicksal hat uns alle bewegt, viele kennen ihr lächelndes Gesicht. "Sie hat mit ihrer Zivilcourage und Organspende ein Zeichen gesetzt und ist zu einer Symbolfigur geworden." Die Initiatoren sprechen sich in dem Post auch für härtere Haftstrafen aus. Die Polizei rechnet mit einigen hundert Teilnehmern.

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