"Treffpunkt Wendeltreppe":Kunst rechnet sich nicht

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Mit seiner eigenen Kunst sieht Wolfram Weisse sich als Nachfahre des großen Surrealisten Max Ernst. (Foto: Hartmut Pöstges)

Wolfram Weisse spricht in Geretsried über das Wesen seines eigenen Metiers. Seine These: 1+1=1

Von Christa Gebhardt, Geretsried

Ein Mathematiker wollte es in der Diskussion nach dem Vortrag "1+1 = 1. Wie Kunst entstehen kann" doch noch einmal ganz genau wissen: Denkt sich ein Künstler nun etwas, bevor er ein Werk schafft, oder denkt er sich nichts? Eine Steilvorlage für Wolfram Weisse, denn darum ging es ja in seinem Referat: "Manchmal ja und manchmal nein", erwiderte er. So einfach sei die Antwort nicht, wenn man Kunstwerke ganzheitlich erfassen und sie in ihrer "materialen, gestalterischen und geistigen Dimension" begreifen wolle. Wer nur die "Wirklichkeit" als Ergebnis messen möchte, dem entgehe das Unbegreifliche und Geheimnisvolle des künstlerischen Schaffens. Absicht plus Handeln ergibt eben nicht zwangsläufig Kunst, das zufällige oder aber auch konzeptionelle Zusammenfügen unzähliger Einflüsse wie zum Beispiel Emotionen, Zeitgeist oder subjektive Wahrnehmung lassen sich gerade nicht messen oder definieren.

Weisse, der nach seinen langen Berufsjahren als Kunst-und Filmpädagoge am Geretsrieder Gymnasium wieder aktiv künstlerisch tätig ist, gab beim "Treffpunkt Wendeltreppe" im Saal der Petrusgemeinde seinen Zuhörern viele passende Schlüssel für einen Rundgang durch das Reich der Malerei in die Hand. Die biologische Formel "Eizelle + Samenzelle= Embryo" kann dabei zum Grundverständnis beitragen, denn hier entsteht nicht einfach "2", sondern etwas ganz Neues, nämlich ein noch nie da gewesenes einzigartiges Kind.

Besonders deutlich wird Weisses These an den collagehaften Werken des 20. Jahrhunderts. Bei Marcel Duchamp etwa, dem Mitbegründer der Konzeptkunst und Wegbegleiter des Dadaismus und Surrealismus, oder Kurt Schwitters, der sich als Dichter, Maler und Grafiker dem Künstlerischen näherte und ein dadaistisches Gesamtweltbild entwickelte. Ein großes Vorbild Wolfram Weisses ("Mein künstlerischer Großvater") ist der ungemein vielseitige und spät entdeckte Künstler Max Ernst. In seinen Gemälden, Collagen und Skulpturen schuf er rätselhafte Bildkombinationen, seltsame Wesen und phantastische Landschaften.

Weisse schlug einen weiten Bogen in der Kunstgeschichte. Er präsentierte dem Publikum frühchristliche Werke ebenso wie den mittelalterlichen Hieronymus Bosch, der im späten 15. Jahrhundert nicht nur in seinem heiteren lyrischen Werk "Garten der Lüste" mit der traditionellen Ikonografie brach. Man nahm mit Francisco Goya und seinen von Dämonen bevölkerten Werken eine eigenständige Weltsicht ein. Goya zeigt etwa in seinem Bild "Der Koloss" unter dem Eindruck der Napoleonischen Herrschaft eine damals noch ungewöhnliche Perspektive: nicht die der Heroen und siegreichen Generäle, sondern die der unschuldigen Opfer des Krieges.

Weisse führte bis zu neueren Kunstströmungen der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, beispielhaft zu Hermann Nitsch, einem unter Kunstfreunden heftig umstrittenen Vertreter des Wiener Aktionismus. Nitsch drückt sein künstlerisches Handeln dramatisch exzessiv im Bild aus, indem er in seinen Werken drastisch rote Farbe, aber auch reales Blut und Eingeweide verschüttet und verschmiert.

Was jeder zu wissen glaubt, lässt sich auch immer relativieren, so ein mögliches Resümee, denn Kunst kennt unzählige verschiedene Lösungen und alle ihre Gegensätze können Einheiten bilden. Und das Ganze ist auch hier mehr als die Summe seiner Teile.

© SZ vom 03.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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