"Souvenir de Florence":Toskana für die Ohren

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Gustav Frielinghaus ist erster Geiger des Amaryllis Quartetts. (Foto: Tobias Wirth/oh)

Gustav Frielinghaus hat mit jungen Kollegen Streichsextette von Tschaikowskys und Dvořák eingespielt

Von Paul Schäufele, Icking

Vielleicht ist es kein Zufall, dass viele große Symphoniker auch Streichsextette geschrieben haben. Eine höchst ambivalente Besetzung kommt heraus, wenn man einem Streichquartett noch eine Bratsche und ein Cello beigibt: ein diffiziler Klangkomplex mit Zug ins Orchestrale. Das gilt ohne Zweifel auch für zwei der Klassiker des Repertoires, das Streichsextett Pjotr Iljitsch Tschaikowskys, mit dem Beinamen "Souvenir de Florence" versehen, und Antonín Dvořáks Sextett in A-Dur. Die beiden gar nicht so kammermusikalischen Kammermusik-Juwelen können in einer Aufnahme des Frielinghaus Ensembles neu kennengelernt werden.

Als erster Geiger des Amaryllis Quartetts, dem diesjährigen "Quartet in Residence" bei Klangwelt Klassik, ist Gustav Frielinghaus den Ickinger Konzertgästen bestens vertraut. Unter seiner Federführung spielt nun eine Gruppe von jungen Musikern, leidenschaftlich und zart, als großer Klangkörper und doch individuell.

Diese Spannung wird gleich zu Beginn der Florenz-Erinnerung Tschaikowskys prominent hörbar. Das Werk entstand in einem der produktivsten Jahre des Komponisten. Er hielt sich für den Sommerurlaub in der toskanischen Hauptstadt auf und brachte in wenigen Wochen seine Oper "Pique Dame" zu Partitur. Gut zwei Wochen saß er dann noch an der großen Kleinigkeit des Streichsextetts.

Der Anfang ist die Eruption ungebremster Schaffensfreude. Das Frielinghaus Sextett zelebriert jedes Aufflammen dieser stürmischen Moll-Akkorde, um sich dann im Durchführungsteil der Satz-Mitte Zeit zu nehmen, die einzelnen Stimmen näher zu beleuchten. Die polyfone Machart des Satzes gibt dazu reichlich Gelegenheit. Wie Domino-Steine reihen sich die Stimmen aneinander, sechs hervorragende Einzelspieler, die hier zu schwungvollem und pathetischem Musizieren zusammenkommen.

Neben Primarius Frielinghaus spielen Leonard Fu, noch Violin-Student und schon Assistent von Donald Weilerstein in Boston; Alejandro Regueira Caumel, Solo-Bratscher beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin; ihm sekundiert Sào Soulez Larivière, Jahrgang 1998 und Schüler von Tabea Zimmermann; die erfahrenen Solisten und Kammermusiker Oliver Léonard und Mathis Merkle bilden die Cello-Gruppe.

Schwung und Pathos also vereint diese Musiker, und es wäre auch eine verpasste Gelegenheit, Tschaikowsky nicht mit heißem Pathos zu feiern. Abkühlung bieten die lyrischen Passagen, vom Frielinghaus Sextett mit Sinn für Melos intoniert. Besonders der zweite Satz, eine jener tränentreibenden Melodie-Orgien, für die der russische Komponist geliebt wird und gelegentlich auch getadelt wurde, gewinnt durch den Zugang des Sextetts, sich auf den verzweifelten Ausbrüchen nicht auszuruhen, sondern mit klarem, schlanken, nicht durch Vibrato aufgeweichtem Ton nach vorne zu spielen.

Nach diesen affektiv eindeutigen Sätzen wirkt das Scherzo auf interessante Weise unbestimmt. Man bereitet sich mit genau koordiniertem, gleichwohl flüchtigem Pizzicato und Tremolo vor auf das große Finale. Das ist, wie schon das Scherzo, mit russischen Volksliedklängen geladen. Doch hier ergreift der Komponist die Gelegenheit, die folkloristische Musik durch Meisterschaft im Kontrapunkt zu adeln - die finale Doppelfuge konstruiert das Sextett so sorgfältig, dass man am Anfang denken könnte, es fehle an Brisanz. Doch die kommt reichlich und führt zu einem würdigen Abschluss des expressiven Werks.

Auch in Antonín Dvořáks 1878 entstandenem Opus 48 spielt Volksmusik eine entscheidende Rolle. Doch anders als bei seinem russischem Kollegen ist Dvořák die minutiöse thematische Arbeit weniger wichtig als das Gegeneinanderstellen von breiten Klangflächen. Das Frielinghaus Ensemble schafft es, aus diesem expansiven Werk die nötigen klangfarblichen Differenzierungen zu beleuchten. Der Kopfsatz wird so zum melancholisch ausgesungenen Gruß an den Mentor Brahms, den auch die beiläufig eingestreuten lebhaft punktierten Rhythmen nicht seine Schwermut austreiben können.

Die Mittelsätze tragen programmatische Überschriften: Dumka und Furiant, beides Tänze, die auch in Dvořáks Erfolgswerk "Slawische Tänze" vorkommen. Apart war die Idee, den langsamen Satz einfach durch diese gar nicht so langsame Dumka zu ersetzen. Das Frielinghaus Sextett spielt den Satz elegant und mit Sinn für den doppelten Boden, das Unheimliche, das vielen der Tanz-Kompositionen Dvořáks anhaftet, die zuerst so heiter daherkommen. Sonniger klingt der wirbelnde Furiant, mit Scherzo-Temperament aufgespielt. Wie schon im Tschaikowsky-Finale können die sechs Musiker im Schlusssatz ihr architektonisches Gespür beweisen. Angelegt ist er als großer Variationensatz über zwischen Dur und Moll changierendem Thema, das sich in einem einzigen, lang gedehnten Schnellerwerden daran erinnert, dass das Opus in A-Dur angefangen hat und eigentlich auch so enden sollte. Dringlich und intensiv beendet das Frielinghaus Sextett auch dieses Meisterwerk der romantischen Kammermusik.

Man kann sich freuen: Auf hoffentlich bald wieder stattfindende Konzerte, zum Beispiel des Frielinghaus Ensembles und zum Beispiel in Icking. Aber CDs sind geduldig - und bis es soweit ist, darf die Platte immer und immer wieder gehört werden.

© SZ vom 26.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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