Packendes Schauspiel:Regie: das Publikum

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Ein kalter Felsen, eisiges Klima, hangen und bangen: Julie und August wollen sich gemeinsam in den Tod stürzen. Oder doch nicht? (Foto: Hartmut Pöstges)

Die Theatergruppe des Gymnasiums Icking liefert mit "norway.today" ein eindrucksvolles Experiment

Von Christa Gebhardt, Icking

Noch hält sich das Lampenfieber der Theatergruppe des Ickinger Gymnasiums in Grenzen und das Schminken hat Vorrang. Aber, "wenn wir dann vor dem Vorhang stehen, dann kommt's heftig!" Katharina, Klara, Julia und Lucia werden verschiedene Facetten der Figur Julie darstellen; Silvana, Kevin, Marie und Matej spielen die unterschiedlichen Stimmungen des jungen August. Julie und August sind die Protagonisten des modernen und mehrfach preisgekrönten Zwei-Personenstücks "norway.today" von Igor Bauersima.

Es ist ein ernstes Stück: Die lebensmüde 20-jährige Julie sucht im Internet Gleichgesinnte, die mit ihr in den Tod gehen. In einem Chatroom lernt sie den 19-jährigen August kennen. Die beiden machen sich auf, um in Norwegen vom 600 Meter hohen, schneeverwehten Preikestolen-Felsen am Lysefjord in den Tod zu springen. Erst im Abschiedsstatement vor der Kamera erkennen sie das Ausmaß ihres Plans.

Das schwierige Drama werden sie im Griff haben, da sind sich die Schauspieler einig. Gespannt aber ist Lilly Rottengatters Team, ob das Theater-Experiment gelingen wird - der Versuch, das Stück mit improvisierten Szenen zu verbinden. Stichwortgeber ist das Publikum.

Das Improteam, geleitet von Karl Haider, wärmt sich lautstark auf und dann kann's losgehen: Mit Furor und ausgelassener Spielfreude verbinden sich die "Impros" von Anfang bis Ende perfekt mit der überzeugenden Darstellungskunst der Theatergruppe. Der Appell an das Publikum, jederzeit zu unterbrechen, Reizwörter zu liefern, wenn es zu tragisch oder zu komisch wird, oder das Stück zu erweitern und Hintergrundwissen einzufordern, wird engagiert und häufig eingelöst. "Zeitstrahl!", ruft einer aus dem Publikum und man sieht eine Szene vor dem Stück, in der deutlich wird, warum Julie schon als Kind eine schwierige Beziehung zu ihrer Mutter hat, warum sie später sagen wird: "Am leben sein heißt es, nicht im Leben sein! Vielleicht geschieht noch was Echtes?"

Echt soll der Selbstmord sein, auf den das Stück hinsteuert. Sind Julie und August noch zu retten? Da spitzt das Publikum zu und will den ersten gescheiterten Selbstmordversuch von August sehen. Ganz schön hart, aber voilà, hier ist er! In einem Engel-und Teufel-Spiel wechseln sich Zweierteams der Impros ab, die Engel wollen August und Julie retten, die Teufel feuern sie an, "es" endlich zu tun. Da gibt es nichts zu lachen, bis ein Engel sehr komisch Julie vom Sinn des Lebens überzeugen will - mit dem Argument, dass Fettwerden nicht schlimm sei und auch andere Frauen im Alter Cellulitis bekämen.

Komik und Tragik wechseln rasant, jede Szene wird von einem melodischen Piano (professionell: Philipp von Unold) untermalt und temperamentvoll angezählt: 7-6-5-4-3-2-1 und los! Von August werden Emotionen eingefordert: Aggression, Melancholie, ein Geständnis seiner Freundin gegenüber. Und die Darsteller der August-Figur bringen es. Die Julie-Spielerinnen müssen zwischen Koketterie, Selbstzweifel, Vernunft und Zynismus schwanken, und sie bekommen das alle sehr eindrucksvoll hin.

Ein zurückhaltendes Bühnenbild mit zwei grauweiß verkleideten Quadern genügt, um das eisige Klima am Fjord zu suggerieren. Als Julie und August den Felsen am Lysefjord erreichen, in den Abgrund blicken und der Sprung in den Tod kurz bevor steht, versprechen sich die beiden vom freien Fall zehn Sekunden der absoluten Freiheit und Wahrhaftigkeit. Man hält die Luft an, bis das Publikum eine Rettungsaktion versucht: Zwei Bergsteiger sollen auftauchen - der Selbstmord verzögert sich. Aber auch im Inneren der Figuren regen sich lebensbejahende Gefühle. Ein berührend offener erotischer Dialog zwischen Julie und August könnte zu einer lebendigen Beziehung führen, eine Szene, die wiederum gebrochen wird. Ein heftiges Gerangel nach Stimmungsumschwung führt fast zu Julies Absturz. Da will das Publikum dann doch ein Happy-End. Im Chor mit einem letzten gemeinsam gesprochenen Satz aller Darsteller offenbart sich das komisch-tragische Wechselspiel des Lebens: "So eben vom Glück getroffen, von dem wir uns nicht so schnell erholen werden."

Großer herzlicher Applaus für Lilly Rottengatters Theatergruppe und das Improteam von Karl Haider. Und zugegeben, sie hatten alle ein bisschen Angst vor diesem Experiment, das aber für Schauspieler und Publikum hervorragend funktioniert hat. Mit Astrid Barbeau, die als Schulleiterin die Theaterarbeit am Rainer-Maria-Rilke Gymnasium unterstützt und ihr "Bekenntnis" zur Theatertradition an der Schule abgibt, dürfen alle auf die Aufführung im nächsten Jahr gespannt sein. Leider war "norway.today" plus Improteam nur dies eine Mal zu sehen.

© SZ vom 21.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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