Ohne Worte:Geschichten, die jeder versteht

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Bei der "LiteraTour" stellen in Geretsried, Königsdorf und Dietramszell Autoren und Illustratoren aus osteuropäischen Ländern sowie ihre Übersetzer Kindern ihre Bücher vor. Und es zeigt sich: Gute Erzählungen funktionieren überall.

Von Thekla Krausseneck, Geretsried

Ela spricht nicht. Sie beobachtet mit Unbehagen, was mit den Wörtern in der Welt geschieht: Die ungesagten ihrer Mutter zieren sich wie feine Damen, die nicht wissen, welches Kleid sie anziehen sollen; die spitzen Wörter der Jungen schießen laut und unbeherrscht hervor; Wörter fallen auf den Asphalt der Straße, rollen durch die Gegend und rinnen an Autoscheiben herunter, bis sie erschöpft sterben, ohne ein Zuhause zu haben. Es sind also Wörter, die niemand liebt, die in keinem Kopf und keinem Herzen mehr Unterschlupf finden. Also spricht Ela nicht, denn sie liebt die Wörter und trägt sie schützend in sich "wie in einem warmen Fläschchen".

Das Mädchen Ela mag nicht sprechen, denn sie liebt die Wörter. Geschaffen hat das Mädchen die rumänische Autorin Victoria Pătrașcu. (Foto: Hartmut Pöstges)

So beginnt das rumänische Kinderbuch "Ela cea fără de cuvinte" alias "Worldless Ela" der Autorin Victoria Pătrașcu. Illustriert hat es mit sanftem Strich die Künstlerin Cristiana Radu. Da ist mit blassem Bleistift gezeichnet Ela an der Hand der Mutter: Am braunen Mantel der großen Frau kleben einigermaßen geordnet zahlreiche Buchstaben, die am Koffer des Mannes daneben sind finsterer und völlig durcheinander. Die Buchstaben haften auch an Ela, doch in ihr ist noch mehr: Bäume sprießen in ihrem Kopf, ein Fuchs hüpft ihr über die Augenbraue, ein Vogel sitzt auf ihrem Herzen: Die bunte, lebendige Innenwelt eines Mädchens, das als stumm gilt, weil es mit seinen Worten nicht verletzen und ihre Lebendigkeit beschützen will.

Anastasia Denysenko aus der Ukraine hatte einen Stadtführer von Kiew für Kinder mitgebracht. (Foto: Hartmut Pöstges)

"Zuerst dachte ich, die Geschichte könnte für die Kinder zu kompliziert sein." Doch Corina Bernic erlebte eine Überraschung: Die Erst- und Zweitklässler der Karl-Lederer-Grundschule konnten der Geschichte nicht nur sehr gut folgen, sie griffen das Motiv auf, dachten sich mit wenigen Geschichten kleine Sätze aus und zeichneten dazu Bilder. Bernic, eine rumänische Dolmetscherin und Kulturmanagerin, stellte den Kindern das Buch am Dienstag gemeinsam mit Radu vor. Sie lasen im Wechsel: erst Radu ein paar Sätze auf Rumänisch, damit die Kinder die fremde Sprachmelodie hörten, dann Bernic die deutsche Übersetzung. Ein Projektor warf derweil Radus traumartig-fantasievolle Zeichnungen an die Wand, als Inspiration für die jungen Teilnehmer des Workshops, der im Anschluss an die Lesung stattfand.

Die Illustrationen vom Mädchen Ela sind von Cristiana Radu. (Foto: Hartmut Pöstges)

Die Begegnung war eine von sechs Stationen auf der "LiteraTour", bei der osteuropäische Autoren und Illustrationen zusammen mit ihren Übersetzern in den Klassenzimmern Platz nehmen, um aus ihren Werken vorzulesen. Mit dabei: eine echte Tatort-Kommissarin, Eli Wasserscheid, die in der Waldorfschule Isartal und in der Realschule aus dem preisgekrönten Buch "Wie im Film" des slowenischen Schriftstellers Vinko Möderndorfer vorlas, das vom ebenfalls mitgereisten Übersetzer Slavo Šerc in die deutsche Sprache übertragen worden war. Und das ukrainische Trio bestehend aus Autorin Anastasia Denysenko und den Illustratoren Olena Staranchuk und Oleg Gryshchenko. Gemeinsam haben sie sich ein Kinderbuch der besonderen Art ausgedacht: einen Stadtführer für die jüngsten Bewohner, "Mein kleines Kiew". Tim Pannier, der beim Trägerverein gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, half den Kindern beim Ausschneiden großer Papierhemden, wie sie ein König von Kiew einst getragen haben soll. Während Denysenko das Buch vorstellte, durften die Kinder das Papierhemd mit Schablonenmustern ausmalen, und lernten gleichzeitig etwas über die weit entfernte Stadt.

Manchen war zumindest die Sprache gar nicht so weit weg: Immer wieder zuckten Kinderköpfe hoch und lauschten gespannt, wenn sie aus dem Gewirr der fremden Worte das ein oder andere bekannte Wort herausgehört hatten. In einer Stadt wie Geretsried nicht weiter verwunderlich: Mehr als 80 Nationalitäten bevölkern sie, viele Kinder wachsen mehrsprachig auf. Das Besondere an den vorgetragenen Geschichten aber ist ihre Allgemeingültigkeit. Denn ein Junge, der mit seinen Eltern Probleme hat, wie in "Wie im Film", kann von allen Kindern gut verstanden werden, ganz egal ob in Slowenien oder Deutschland.

Die Künstler und Autoren absolvierten ein dreitägiges Programm, pendeln von Geretsrieder Schulen nach Königsdorf und an die Montessori-Schule in Dietramszell; ein Beispiel für ein gelebtes Mittelzentrum, lobte Rudi Mühlhans, Geschäftsführer des Trägervereins Jugendarbeit. Am Donnerstag fanden die letzten drei Lesungen statt, und weil für eine Begegnung der Künstler und Literaten untereinander kaum Zeit geblieben wäre, hat der Trägerverein ein solches Treffen am Dienstag initiiert. Einzig nicht mit dabei: die stets um kulturellen Austausch bemühte Dagmara Sosnowska, Leiterin des Integration Aktiv. Ohne sie, sagte Mühlhans, hätte es die "LiteraTour" nicht gegeben.

© SZ vom 27.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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