Mitten im Internet:Alles Müller, oder was?

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Das Jahr ist noch nicht vorbei, dabei wird schon eifrig darauf zurück geblickt oder geklickt. Das artet manchmal in Selbstbeweihräucherung aus

Von Konstantin Kaip

Dass sich das Jahr zum Ende neigt, ist unübersehbar. Schließlich ist 2016 in diesen Tagen präsenter als in allen 350 vorangegangenen. Kein Fernsehprogramm, kein Radiosender, kein Zeitungskiosk, der einen nicht mit Abgesängen torpediert: Jahresrückblicke allüberall. Das gilt auch für die sozialen Netzwerke. Während die klassischen Medien aber eher ein gruseliges Konglomerat aus Krisen, Siegeszügen von Populisten und Todesfällen bedeutender Musikgenies mit düsteren Analysen würzen, präsentiert einem Facebook mit dem "persönlichen Jahresrückblick" das Gegenteil: eine von Algorithmen reduzierte Essenz der Selbstdarstellung. Toller Urlaub, toller Körper, tolle Freunde.

Das ganze Jahr in neun Selfies. Der animierte Rückblick wird automatisch erstellt, teilen muss man ihn nicht. Klar, dass das aber genau die tun, die unterm Jahr ohnehin am meisten posten. Bei den Politikern im Landkreis zum Beispiel der Geretsrieder Bürgermeister Michael Müller (CSU), der auf Facebook ein Daumenkino christsozialer Selbstinszenierung präsentiert: Müller und sein Fraktions-Spezl Gerhard Meinl, Müller in den Bergen, Müller mit Riesenkürbis, Müller mit Nikolaus, dem Landtagsabgeordneten Martin Bachhuber und dem Landrat, zwischendurch der Ski-Star Christian Neureuther, dann wieder Müller mit Landrat und dem Bundestagsabgeordneten Alexander Radwan, Müller vor dem Rathaus in Wolfratshausen, Müller vor dem Kolosseum in Rom und schließlich Müller als Reservist in Uniform beim Sammeln für die Kriegsgräberfürsorge.

Die meisten aber verzichten zum Glück drauf, diese Retrospektive zum eigenen Nabel zu publizieren. Vielleicht denken sie daran, was sie 2016 sonst noch so erlebt haben, und lächeln still, weil Facebook nichts davon weiß. So hat der ganze Wahnsinn zum Jahresende doch noch etwas Tröstliches: Er führt dazu, dass man im Geiste seinen echten persönlichen Jahresrückblick wagt, der einem ganz alleine gehört und den man mit niemandem teilen muss.

© SZ vom 15.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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