Geretsried:Unterricht mit Sitzsack und Kopfhörer

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Im Geretsrieder Schulzentrum testen die Fünftklässler Lernlandschaften. Die neuen Klassenzimmer mit offenen Türen, Ruhemöbeln und Gruppentischen verändern auch die Rolle der Lehrer.

Von Felicitas Amler, Geretsried

Es mag paradox klingen, zeigt sich aber im Schulalltag: Kinder, die still sitzen müssen, werden unruhig; Kinder, die sich bewegen dürfen, sind stiller. Das ist einer der Vorteile der Lernlandschaften, die mit Beginn dieses Schuljahrs am Gymnasium und an der Realschule Geretsried provisorisch eingerichtet wurden. Lehrer können ihren Unterricht hier flexibler gestalten, Schüler individueller und mit mehr Freude lernen. "Cool" finden das die Fünftklässler des Gymnasiums, die sich mit hörbarem Stolz als "Tester der Lernlandschaften" bezeichnen. Und die stellvertretende Direktorin Christine Kolbeck, die selbst in den freundlichen offenen Räumen unterrichtet, sagt, die Neuerung tue auch den Lehrern gut.

Im M-Gang im ersten Stock des Gymnasiums ist vieles anders als im restlichen Gebäude: Zimmertüren stehen offen, auch wenn dahinter unterrichtet wird; einige Schüler liegen auf Sitzsäcken, haben Kopfhörer auf und studieren Unterlagen; eine Gruppe sitzt an einem Tisch und erarbeitet gemeinsam etwas. Farbenfrohe Elemente hellen die Räume auf: quietschgelbe Hocker und Regale, apfelgrüne Stühle, bunte Blätter an den Wänden. Eines der Zimmer hat Teppichboden und eine schallschluckende Decke. Dort wird die Inklusionsklasse unterrichtet, in der zwei Kinder mit Höreinschränkung sind. Ihretwegen gibt es eine spezielle Anlage, klein und unscheinbar, aber sehr effektiv: Lehrerin Anna Schwarz hat ein winziges Mikrofon zum Anstecken, die schwerhörenden Kinder kleine Hörgeräte. Der besonders lärmgeschützte Raum erleichtert die Verständigung.

Gymnasium und Realschule sind unter dem gemeinsamen Dach des Schulzentrums an der Adalbert-Stifter-Straße untergebracht. Das Zentrum wird in den kommenden Jahren aufwendig saniert. Momentan wird auf einem bisherigen Parkplatz ein Interimsgebäude errichtet, das für den Umbau nötig ist. Wenn es im April fertig ist, ziehen die fünften Klassen beider Schulen dorthin um. Der Zeitpunkt heuer sei ideal für den ersten Versuch mit Lernlandschaften, sagt Kolbeck. Einerseits wegen der räumlichen Möglichkeiten, andererseits aber auch, weil zum kommenden Schuljahr der neue "Lehrplan plus" herauskommt. Dessen Grundforderung sei die verstärkte Förderung von Kompetenzen statt der reinen Stoffvermittlung, und das wiederum sei auch der Kern der Lernlandschaften.

Lernlandschaften bieten räumlich und in ihrer Ausstattung die Möglichkeit, individuell auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse der einzelnen Schüler einzugehen. Flexible Klassenräume mit leicht beweglichen Tischen, Boards und Pinnwänden lassen sich schnell umgestalten: vom Frontalunterricht in andere Unterrichtsformen - Arbeit Einzelner im Stillen, Partner-, Gruppen- oder Projektarbeit, Präsentationen. Zusätzlich gibt es einen "Marktplatz" aller Klassen einer Stufe: für Rückzug, Recherchen am Computer und mit schriftlichem Material. All dies sei in Geretsried natürlich noch im Aufbau, sagt Kolbeck. Und doch sei der geschützte Bereich, den die Lernlandschaft den fünften Klassen bietet, so augenfällig anders, dass schon einige Schüler der Oberstufe gefragt hätten: "Kann das sein, dass die hier was bekommen, was wir nie hatten?!" Auch von den Eltern werde das neue System gut angenommen.

Kolbeck sagt, im Unterricht sei zwar nicht alles völlig neu, aber bisher sei es "nie so geschlossen und systematisiert" gewesen. Es gebe jetzt auch deutlich mehr Teamarbeit unter den Lehrern: "Wir tauschen viel mehr aus als vorher." Die Geretsrieder haben sich einige etablierte Lernlandschaften angeschaut, bevor sie selbst loslegten: In Trudering, Neubiberg und Oettingen. "Wir haben uns das mit den offenen Türen lange nicht vorstellen können", sagt Kolbeck. "Aber es funktioniert." In der Realschule haben die Räume der Lernlandschaft gleich gar keine Türen, erklärt Konrektorin Christine Venus-Michel.

Auf dem Marktplatz herrscht in jedem Fall Flüstergebot, und auch in den Klassenzimmern wird möglichst nicht zu laut gesprochen - was auch für die Lehrer gilt: "Man nimmt sich selbst mit der Stimme zurück", hat Kolbeck festgestellt. Überhaupt müssten die Lehrer durchaus umdenken, erklärt sie. Ihre Rolle sei in den Lernlandschaften mehr die eines Coaches im Hintergrund: "Und die Schüler bringen sich gegenseitig etwas bei." Das sei freilich das Ideal, das erst nach und nach zu erreichen sei. "Es muss wachsen." Angesät aber sind die Landschaften an beiden Häusern im Schulzentrum Geretsried.

© SZ vom 29.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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