Geretsried:Rüstungsindustrie gegen Wochenendhaus

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Im aktuellen Geretsrieder Heft erkundet Martin Walter den Ursprung der Munitionsfabriken im einstigen Wolfratshauser Forst. Und berichtet von einem Tauschgeschäft zwischen dem Bürgermeister und Görings Biografen.

Von Thekla Krausseneck, Geretsried

Wo heute die Geretsrieder leben, war bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg noch der Wolfratshauser Forst. Dann kamen die Nazis und bauten ihre Munitionsfabriken in diesen Wald - und auf den Ruinen jener Bunker wuchsen später die Geretsrieder Wohnhäuser empor. Diese Geschichte ist bekannt. Aber wieso suchten sich die Nazis ausgerechnet den Wolfratshauser Forst aus? Martin Walter vom Arbeitskreis Historisches Geretsried ist der Frage nachgegangen. Seine Erkenntnisse hat der Hobby-Historiker in ein neues "Geretsrieder Heft" gegossen, das unter dem Titel "Zwei Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst" zu erhalten ist. Das Heft bildet den Auftakt zu einer achtteiligen Serie, in der die Geschichte der beiden Munitionsfabriken - von der Energieproduktion über die Zwangsarbeit bis hin zur Demontage - beleuchtet werden soll.

Der 1942 geborene Martin Walter, der in der Amtszeit des ersten Geretsrieder Bürgermeisters Karl Lederer Bauamtsleiter war und später die Geschäfte der Stadt leitete, kennt die Geschichte des Orts wie kaum ein zweiter. Er hat den Aufbau Geretsrieds miterlebt und sieht die Spuren der NS-Zeit bis heute an den verwinkelten Straßen, den Betonrollwegen oder den Resten gesprengter Bunkeranlagen. Sein Wissen reicht er weiter, etwa mit Führungen. Trotzdem habe es noch manches in der Organisationsstruktur der Munitionsfirmen gegeben, das ihm nicht klar gewesen sei, schreibt Walter in seinem Vorwort. Der Grund liegt jetzt auf der Hand: Die Nazis hatten ein schier undurchschaubares Netz aus Scheinfirmen und Gesellschaften gesponnen, das vor allem einem Zweck diente, nämlich dem Verschleiern und Täuschen. Ein Element dieses Systems war die Anlage im Wolfratshauser Forst.

Welche Umstände zum Bau der Munitionsfabriken der Dynamit AG (DAG) und Deutschen Sprengchemie (DSC) führten, legt Walter nach einem Exkurs durch die Geschichte des Nazi-Reichs und des "Vierjahresplans" dar. Der von der NSDAP ernannte Wolfratshauser Bürgermeister Heinrich Jost wünscht sich eine stärkere Wirtschaftsförderung für seinen Ort: Mehr Fremdenverkehr, mehr Wohnungsbau, ein neues Schulhaus und die Errichtung einer Militär-Garnison sind seine Ziele. Diese lassen sich seiner Meinung nach durch einen nahen Industriebetrieb etwa im Wolfratshauser Forst am besten erreichen. Seine Briefe an die Ministerien bleiben zunächst unbeachtet.

Eines Tages erhält Jost Besuch von Erich Gritzbach, dem Autor des Buchs "Hermann Göring, Werk und Mensch". Die Schrift ist ein Loblied auf Göring und seine Politik, 1937 gilt es an den Schulen als Pflichtlektüre. Görings Vertrauter Gritzbach hätte gern ein Wochenendhaus in Ebenhausen und bittet den Wolfratshauser Bürgermeister, beim zuständigen Baurat ein gutes Wort einzulegen. Jost nutzt die Gelegenheit, von seinen eigenen Nöten zu berichten. So kommt der Deal zustande: Jost spricht mit dem Baurat, Gritzbach mit Göring. Kurz darauf bekommt Jost seine lang ersehnte Industrie im Wolfratshauser Forst - und Gritzbach das gewünschte Wochenendhaus. Zügig schreiten die Nazis zum Bau der Rüstungsanlage. Bauern, die ihre Grundstücke nicht für die vermeintliche "Schokoladenfabrik" hergeben wollen, werden mit "sonst Dachau" zum Schweigen gebracht.

Kenner der Stadtgeschichte: der ehemalige Bauamtsleiter und Geschäftsführer der Gemeinde Martin Walter in einem Geretsrieder Bunker. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Walter geht in dem Heft noch weit über den Ursprung der Fabriken hinaus. Er analysiert das NS-Industriegeflecht, schildert, warum die Montan eine Tarnfirma der Wehrmacht zum Zweck der Aufrüstung war, wie die IG-Farben sich Abnahmegarantien sicherte, indem sie die NSDAP mit großzügigen Spenden unterstützte, und was der Nobelpreis mit der DAG zu tun hat. Seine Recherchen illustriert er mit ganzseitigen Abdrucken von Dokumenten und Lageplänen. Das Heft schließt mit einer ausführlichen Zeittafel.

Das Geretsrieder Heft 7.1 und seine sechs Vorgänger sind im Rathaus und in der Buchhandlung Ulbrich am Karl-Lederer-Platz für zehn Euro zu haben, oder beim Archivar Harald Zelfel, per E-Mail an harald.zelfel@t-online.de. Weitere Informationen über die Hefte und den Verein im Internet unter www.arbeitskreis-historisches-geretsried.de

© SZ vom 03.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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