Bad Tölz:Zur Freiheit verdammt

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Am Gabriel-von-Seidl-Gymnasium spielt das Oberstufentheater "Tote ohne Begräbnis" von Jean-Paul Sartre und überzeugt das Publikum

Von Dorothée Nowotny, Bad Tölz

Schüsse fallen. Uniformierte Soldaten laufen geduckt durch die Reihen. Vier Männer und eine Frau mit Bauernhemden und Baskenmützen stehen in der Mitte. Sie sind umzingelt. Es sind François (Lena Lochner), Sorbier (Caitlin Reichardt), Canoris (Katharina Brandhofer), Henri (Leif Eisenberg) und Lucie (Helena Dechentreiter) - Angehörige der französischen Résistance kurz vor Kriegsende im Frankreich des Jahres 1944. Sie wollten ein Dorf angreifen, es von französischen Kollaborateuren befreien. Die Dorfbewohner wurden getötet, die Widerstandskämpfer gefangen genommen.

Dass sich das Oberstufentheater des Gabriel-von-Seidl-Gymnasiums an Jean-Paul Sartres "Tote ohne Begräbnis" wagt, ist bemerkenswert und mutig. Rappelvoll ist es bei der Premiere, alle Reihen sind besetzt. Die jungen Darsteller spielen auf hohem Niveau: Gekonnt tragen sie innere Kämpfe nach außen. Sartres Frage "Wie würde ich mich bei Folter verhalten?" gehen die Schüler in dem Stück nach und kreieren psychologische Hochspannung in dem sehr geschlossenen Kammerspiel.

Die Grausamkeit der Nazi-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs zeigt Jean-Paul Sartre in seinem Stück "Tote ohne Begräbnis" aus französischer Sicht. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Lena Lochner legt Energie und Empathie in die Rolle des 15-jährigen François, das jüngste Mitglied der Widerstandskämpfer. "Habt ihr mich denn gewarnt, als ich zu euch kam? Ihr habt mir gesagt: Die Résistance braucht Männer. Ihr habt mir nicht gesagt, dass sie Helden braucht. Ich bin kein Held, ich nicht, ich bin kein Held!", bricht es aus ihr heraus. Der Bühnenhintergrund ist ein Jackson-Pollock-artiges, großformatiges Gemälde, entstanden im Kunst Additum der Q11. Rote, grüne, graue und schwarze Tupfer nehmen die ganze Bühne ein. So wirr wie die Kunst sind auch die zwischenmenschlichen Beziehungen der Charaktere: Sie schubsen, schreien und schlagen. Nehmen sich in den Arm, sprechen von Liebe und Freundschaft, Stolz und Hoffnung, Leben und Tod.

Als ihr Anführer Jean in der Gefängniszelle auftaucht, den Soldaten gegenüber aber unerkannt bleibt, erreicht die Angst der Gefangenen ihren Höhepunkt: Sie haben den Soldaten etwas zu verschweigen. Die Handlung wird brutaler. Die Soldaten vergewaltigen Lucie hinter der Bühne. Helena Dechentreiter spielt die Frau. Ihre ausdruckslosen Augen und ihre monotone Stimme schaffen ein unheimlich glaubhaftes Bild der inneren Zerstörung. Bevor Henri Lucies kleinen Bruder François erdrosselt - weil die Gruppe Angst hat, er könnte bei der Folter aussagen - sagt sie emotionlos: "Na und, er wird morgen sowieso sterben!" Auf der rechten Seite der Bühne sitzen die drei Soldaten: Die Wehrmachtsuniformen, die sie tragen, sehen echt aus. Überzeugend spielen Joshua di Marcoberardino den sadistischen Clochet und Jacob Haßlauer die unkontrollierten Wutausbrüche des Pellerin. Katharina Reinhardt gibt die Anführerrolle der Soldaten. Die Dominanz, den Stolz, die Männlichkeit aber auch die Zerrissenheit des Landrieu nimmt man ihr ab. "Es ist eine Scheiße, wenn sie nicht reden!", flucht sie immer wieder.

Die jungen Darsteller spielen auf hohem Niveau: Gekonnt tragen sie innere Kämpfe nach außen. Sartres Frage "Wie würde ich mich bei Folter verhalten?" gehen die Schüler in dem Stück nach. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Wenn die zwei Milizsoldaten, gespielt von David Schuhmann und Johannes Strickstrack, die Gefangenen zur Folter holen, singen sie deutsche und französische Volkslieder im Kanon: "Im Frühtau zur Berge" oder "Le coq est mort".

Intensiv ist das Stück, das die Jungschauspieler dem Publikum präsentieren. Eltern, Geschwister, Mitschüler und Lehrer fahren in ihren Sitzen zusammen, wenn laute Schießgeräusche aus den Lautsprechern dröhnen und Schreie der Gefolterten durch Mark und Bein gehen. Die harte Handlung wird immer wieder durch Traumsequenzen aufgebrochen. Untermalt mit Beethovens Symphonie Nr. 7 und Schuberts "Der Tod und das Mädchen", gespielt von dem Instrumentalensemble des Gabriel-von-Seid-Gymnasiums und dem Gabriel-von-Seidl-Quartett, erinnern sich Sartres Charaktere an die Zeit vor dem Krieg: An lachende Kinder, gemeinsame Sommertage und Fahrten mit dem Motorrad. Auch das Technikteam der Schule ist mit einbezogen: Eine Videoprojektion zeigt grausame Bilder aus dem zweiten Weltkrieg und aus heutigen Kriegsgebieten: Zerbomte Städte, die Geschwister Scholl und die Taliban.

Bitter endet der Abend mit einem zufrieden Clochet: fünf der zehn Personen des Stückes sterben. "Zum Trost" spielt das Instrumentalensemble Dmitri Shostakovichs Jazz Suite Nr. 2, die wie Salbe auf den Wunden des Publikums wirkt. Jeder Mensch sei verantwortlich für sein Handeln und zur Freiheit verdammt, sagt Sartre. Diese Verantwortung, so die Regisseurin Stephanie Krug in der Vorrede, wird immer wichtiger in unserer heutigen Zeit: Populismus, Rechtsruck, Angst vor Flüchtlingen. Wenn Krieg herrsche, verlören die Menschen ihre Menschlichkeit. Leider könne das Stück zur Zeit in jedem Land spielen.

© SZ vom 17.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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