Bad Tölz:Mit allen Stärken und Schwächen

Lesezeit: 4 min

An der Von-Rothmund-Schule der Lebenshilfe in Bad Tölz erfahren Kinder mit geistiger Behinderung eine individuelle Förderung. Beim Tag der offenen Tür zeigen sich Eltern davon beeindruckt

Von Klaus Schieder, Bad Tölz

An der Tafel klebt ein Haus aus Papier. Das Dach ist rot, die Fenster sind braun, jeder Laden zum Falten. Christina Paul hält ein Foto hoch, das Anna zeigt. Sie ist eine der sechs Schülerinnen und Schüler, die im Kreis vor ihrer Lehrerin sitzen. "Das bin ich", ruft sie fröhlich. Dann darf sie eine Karte aus einem Stapel ziehen, auf die ein Kopf mit einem Fragezeichen gemalt ist. Anna weiß noch vom Vortrag, was das Symbol bedeutet: Denken dürfen. Richtig, bestätigt die Lehrerin, "du hast das Recht nachzudenken, du hast das Recht auf eigene Ideen". Ihr Foto und die Karte pinnt Anna mit einem Magnet in eines der Fenster an der Tafel.

Um Kinderrechte dreht sich der Unterricht in der Mittelschulstufe der Von Rothmund-Schule in Bad Tölz, die von der Lebenshilfe geführt wird und an diesem Vormittag ihre Pforten für Besucher geöffnet hat. Und so geht es weiter: Dominik hängt sein Bild und eine Karte in das nächste Fenster, die das Recht auf Essen und Trinken symbolisiert. Bei Mehmed ist es das Recht auf eine eigene Meinung. "Du darfst sagen, was du möchtest und was du nicht möchtest, auch richtig laut manchmal", sagt Paul. Das Recht, glücklich zu sein, das Recht auf freie Religionswahl, das Recht, seine Freunde selbst zu wählen, das Recht auf den eigenen Körper - langsam füllt sich das Haus an der Tafel mit Gesichtern und Symbolen. Am Ende zeigt die Lehrerin das Foto eines dunkelhäutigen Mädchens. "Die kenne ich nicht", sagt Dennis. Das sei ein Kind in einem Flüchtlingslager in der Türkei, erklärt die Lehrerin. "Da, wo sich Flüchtlinge treffen, um zu uns zu kommen." Die Kinderrechte gelten nicht bloß für die Klasse in Tölz, sie gelten auch für dieses Mädchen, für alle Kinder auf der Welt - das macht Christina Paul damit deutlich.

Sabine Pfeifer leitet die Schule. (Foto: Manfred Neubauer)

Auf zwei der hinteren Stühle sitzen Gabi und Heiko Oehme und folgen dem Unterricht. Beide lächeln. Das Ehepaar ist aus Schlehdorf in die Tölzer Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gekommen. Sie haben einen Sohn mit Down-Syndrom, der nun in die schwierige Phase zwischen Schule und Beruf kommt. Und die Einrichtung der Lebenshilfe bietet neben der Grund- und der Mittelstufe auch eine Berufsschulstufe an. Bislang habe die Einzelintegration ihres Kindes tadellos funktioniert, erst im Kindergarten und in der Grundschule Schlehdorf, dann in der Mittelschule Murnau, erzählt Gabi Oehme. Aber zur Vorbereitung auf einen Beruf fehlten in Murnau einfach die Ressourcen. Es gebe zu wenige Lehrerstunden, da mangle es an Unterstützung von Seiten der Regierung, sagt die Mutter. Mit dem Besuch in Bad Tölz könne man sich den weiteren Weg anschauen.

Rund 30 Eltern und Fachkräfte aus anderen Einrichtungen wie Kindergärten und dem Sonderpädagogischen Förderzentrum in Tölz sitzen schon am Morgen in einem Raum der Heilpädagogischen Tagesstätte gleich neben dem Schulgebäude zusammen. Sie sehen sich einen Film der Lebenshilfe an, der das komplette Angebot der Förderschule zeigt, neben der die Lebenshilfe auf dem Gelände an der Bairawieser Straße auch noch eine Kindertagesstätte und ein Wohnheim für Erwachsene betreibt. Die Fragen der Eltern an Schulleiterin Sabine Pfeifer sind spezifisch, jedes Kind braucht schließlich eine ganz individuelle Förderung. Dass auch Fachleute anderer Einrichtungen gekommen sind, freut Pfeifer. "Diese Vernetzung ist extrem wichtig", sagt sie. 1000 Mal wichtiger als 1000 Flyer von 1000 Anbietern.

Inwiefern Inklusion hierzulande gelingen kann, bleibt für die Schulleiterin eine spannende Frage. Vor allem in Bayern mit seinem separierenden Sonderweg. Am leichtesten sei die Teilhabe behinderter Kinder am normalen Leben noch im Vorschulalter, weil im Kindergarten "das Spielerische überwiegt". In der Schule von der ersten bis zur neunten Klasse ist das schon nicht mehr so einfach. Für die Berufsschulstufe gebe es einen Extra-Lehrplan - "mit dem Ziel, leben zu lernen", sagt Pfeifer. In einer Wohnung alleine zurecht kommen, mit Geld umgehen, Freizeit gestalten, einen Partner finden oder auch nur einen Busfahrplan lesen. Am schwierigsten wird es jedoch für die Förderschüler, hernach eine Stelle zu finden, vor allem auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Pfeifer erzählt ein Beispiel: Ein Vater schickt seinen Sohn, der Förderbedarf hat, zu einem befreundeten Handwerker in die Ausbildung. Dort darf er auch ein bisschen was tun, alle sind glücklich und sagen, das passe. In Wirklichkeit sei dies aber bloß "eine Blase", so die Schulleiterin. Das liegt nicht an rein beruflichen Fähigkeiten. Behinderten Menschen fehlten oftmals Schlüsselkompetenzen wie Ausdauer oder Beharrlichkeit, sie blieben nun mal ein Stück weit "beschützenswert", sagt die Schulleiterin. Sie könnten sich im Job durchaus wacker schlagen, aber es stelle sich die Frage: "Ist er dort ein glücklicher Mensch? Hat er Selbstbewusstsein"? In einem lateinamerikanischen Land könnte dies leichter sein als in der deutschen Hochleistungsgesellschaft - "mit wenigen Arbeitsplätzen in so Nischen". Die Von-Rothmund-Schule hole die Schüler dort ab, wo sie stehen, und höre, was sie wollen - "dann braucht es jemanden, der das auseinanderklamüsert und ihnen sagt, das und jenes ist möglich".

Sabine Pfeifer leitet die Schule. (Foto: Manfred Neubauer)

Gabi und Heiko Oehme stehen nach einer Weile auf und verlassen das Klassenzimmer. Der Eindruck, den sie beim Tag der offenen Tür von der Schule bekommen haben? "Toll", sagt Gabi Oehme. "Sehr positiv", pflichtet der Ehemann ihr bei. Alles sei menschlich, offen und gut strukturiert. "Sie haben hier einen speziellen Blick, jedes Kind wird mit seinen Stärken und Schwächen wahrgenommen, das ist eine gute Basis, auf der man weitermachen kann", meint Gabi Oehme.

Als das Ehepaar aus Schlehdorf draußen ist, hält Christina Paul noch andere Fotos von Flüchtlingskindern hoch. Wie alle Kinder in Deutschland hätten auch sie das Recht, hier glücklich zu sein, sagt die Lehrerin.

© SZ vom 12.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: