Bad Tölz:Hilfe für Hirnverletzte

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Eberhard Bahr hat das Neurokom gegründet. Der Neuropsychologe hat im Juli aus Altersgründen die Geschäftsführung abgegeben. (Foto: Hartmut Pöstges)

Seit 20 Jahren haben Patienten mit dem Neurokom im Tölzer Kurviertel eine Anlaufstelle

Von Klaus Schieder, Bad Tölz

Sie war auf dem Weg zur Schule, als sie von einem Auto erfasst und gegen eine Mauer gedrückt wurde. Nach einem langen Leidensweg lebt die junge Frau, die durch den Unfall als Kind eine Hirnverletzung erlitt, nun seit zehn Jahren in der Reha-Klinik Neurokom Isarwinkel im Tölzer Kurviertel. Manchmal geht sie zum Einkaufen in die Stadt, ohne Rollator, ohne Gehstock. Ihre Bewegungen wirken eckig, weshalb es vorkommt, dass Passanten sie für sturzbetrunken halten. Wer könne schon ihre Verletzung sehen, sagt Eberhard Bahr, Gründer und langjähriger Leiter des Neurokom. "Ihre Stärke ist der Kampfgeist und der Leistungswille. Kämpfer haben viel höhere Chancen als jene, die sich aufgeben."

Seit 20 Jahren besteht das Neurokom an der Buchener Straße. Der Grundbaustein ist die "Neuroberufliche Reha-Einrichtung" (NRE), die 43 Plätze für hirnverletzten Menschen anbietet. Dazu gehört auch das "Neuro-Integrale Wildstein", ein Trainingshaus mit stationärer Langzeitförderung. Hinzu kommt "Neuro-Alf" - eine Wohngruppe für Patienten, die schon in der Gesellschaft leben können, aber therapeutische Begleitung brauchen. "Wir verstehen uns in allen Modulen als Lotsen", sagt Bahr. Ziel sei es, hirnverletzte Menschen zu befähigen, "an allen Facetten der Allgemeinheit teilzunehmen und teilzuhaben". Am sozialen, kulturellen, religiösen, sportlichen Leben.

Das ist ein langer Prozess, denn wer eine Hirnverletzung erlitten hat, muss vor allem wieder zu einer eigenen Identität finden. Das geschieht nicht stetig, sondern in Stufen. Bahr spricht von "Emergenz-Sprüngen", die vollzogen werden, wenn der Patient nicht nur einzelne Fähigkeiten, sondern aus ihnen wieder Wechselwirkungen und Zusammenhänge lernt. "Jemand erkennt, dass Marmelade schmeckt und dass man sie als Brotaufstrich nutzen kann, aber er weiß noch nicht, wie man an diese Marmelade kommt, dass man in ein Geschäft gehen muss, wie der Weg dorthin ist, dass man Geld braucht und wie viel das Geld wert ist", erklärt Bahr. Vor solchen Emergenz-Sprüngen erscheine den Betroffenen die Umwelt oft feindlich, weswegen sie sich gereizt verhalten können.

Gelingt es hirnverletzten Menschen, zu einer neuen, häufig noch fragilen Persönlichkeit zu finden, ist dies für die Angehörigen ein Problem. Überhaupt, sagt Bahr, sei eine Hirnverletzung für das System Familie "die Katastrophe schlechthin". Die Angehörigen seien oft unsicher. Jeder möchte gerne helfen, wisse aber nicht wie, was Schuldgefühle und schlechtes Gewissen nach sich ziehe. Die meisten Hirnverletzungen sind Folgen eines Unfalls, eines Schlaganfalls, eines Tumors oder einer Infektion. Die Patienten stammen aus allen Schichten der Bevölkerung. Schlimm sei dies vor allem für Selbständige, deren Praxis, Geschäft oder Unternehmen oft "den Bach runtergeht", erzählt Bahr. Es sei unwahrscheinlich, dass sie ihren Beruf jemals wieder so ausüben können wie zuvor.

Für die Zukunft hat der Gründer des Neurokom, das seine finanziellen Mittel von Krankenkassen, dem Bezirk Oberbayer, Rentenversicherungsträgern und Berufsgenossenschaften erhält, einen Wunsch und einen Traum. Hirnverletzte sollen einen eigenen Status in der Sozialgesetzgebung bekommen - wie Körperbehinderte oder psychische Kranke. Und: Neurokom kann eine Förderwerkstatt einrichten. Einen Namen hätte Bahr schon: "Neuro-Werk".

© SZ vom 16.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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