Bad Tölz:Der lange Weg zu neuer Identität

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"Es ist eine komplexe Arbeit, die vollen Einsatz fordert", sagt Neurokom-Geschäftsführerin Silivia Ulze. (Foto: Manfred Neubauer)

Seit 20 Jahren hilft Neurokom hirnverletzten Menschen

Von klaus schieder, Bad Tölz

Das Saxofon steht auf einem Stativ. Stefan Tiefenbacher spielt das Instrument mit der rechten Hand, den linkem Arm hat er bei einem Unfall vor 15 Jahren verloren. Schlimmer noch: Er erlitt damals eine Hirnverletzung und verbrachte zwei Jahre in der Reha-Einrichtung Neurokom in Bad Tölz. Dort wollte er nicht Häuschen anmalen, wie er sagte, er wollte weiter Musik machen. "Wir haben es ihm möglich gemacht", sagt Geschäftsführerin Silvia Ulze. Mit seiner Band jazzt Tiefenbacher am Montagabend beim Festakt zum 20-jährigen Bestehen von Neurokom. Er spiele vielleicht mit weniger Technik, "aber sicher mit noch mehr Tiefe, die uns berührt", meint Ulze.

1995 gründete Eberhard Bahr die Reha-Einrichtung, die sich um erwachsene Menschen kümmert, die sich durch einen Unfall oder eine Krankheit eine Hirnverletzung zugezogen haben. Sie war zunächst im alten städtischen Krankenhaus angesiedelt, unter dem Dach des Reha-Zentrums Isarwinkel, das Bahr gemeinsam mit dem Psychiater Arnold Torhorst aufbaute. Ende 2010 trennten sich ihre Wege. Seither ist das Neurokom Isarwinkel im ehemaligen Sanatorium Albrecht im Kurviertel angesiedelt. Zusammen mit Ulze, die seit 1997 dabei ist, entwickelte Bahr fünf Module: die neuroberufliche Reha-Einrichtung (NRE), die neurointegrale Wildstein (NI) mit dem Förderhaus für Menschen, die nach der Reha noch Hilfe im Alltag brauchen, das Neuro-ALF mit ambulant betreutem Wohnen, die Angehörigenarbeit und das Fortbildungsinstitut "Integralakademie". Etwa 100 Mitarbeiter, von Therapeuten und Ärzten über Pflegekräfte bis zu Verwaltungsangestellten, kümmern sich im Neurokom um ebenso viele Patienten. "Unser Motto lautet: Weg von Fürsorge und Versorgung, hin zu selbstbestimmter Mitwirkung", sagt Ulze in ihrer Festrede.

Das ist für die Betroffenen und ihre professionellen Begleiter ein oft langer, von Rückschlägen gepflasterter Weg. Ulze erzählt von einem Bergsteiger, der mit einem Freund auf eine hochalpine Tour ging, in eine Kletterspalte stürzte und beim Aufwachen aus dem Koma glaubt, er sei derjenige, an dessen Seil der Freund hing. Er versteht nicht, warum nun er selbst im Rollstuhl sitzt. Ulze erzählt von einer Chirurgin, die an Diabetes leidet und sich überarbeitet. Als sie aus dem Zuckerkoma erwacht, kommt ihr die Welt komisch vor. Sie kann nicht planen, sich nicht konzentrieren, auch andere kognitiven Fähigkeiten sind weg. Sie braucht zwei Jahre, bis sie begreift, dass sie nie wieder als Chirurgin arbeiten kann. "Es ist eine komplexe Arbeit, die vollen Einsatz fordert", sagt Ulze. Die Patienten erlebten eine Phase der Verzweiflung, dann eine Periode des Akzeptierens, schließlich eine Zeit, in der sie eine neue Identität herausbilden. Bahr und Ulze nennen dies das "zentrale Trauma". Unsicher, beschämt und voller Angst vor einem weiteren Schlag aus heiterem Himmel, stark eingeschränkt in ihren Fähigkeiten, zersplittere die Persönlichkeit der Hirnverletzten. "Was Hoffnung bringt und was wir alle im Team erleben, das ist, wie ein Mensch nach und nach zu einer neuen Einheit findet und zu einer neuen Persönlichkeit wird", sagt Bahr.

Für Bürgermeister Josef Janker (CSU) ist das Neurokom "eine segensreiche und erfolgreiche Einrichtung", die vorausschauend und betriebswirtschaftlich handle. "Das Konzept stimmt", sagt er. Durch die Kooperation zwischen Asklepios-Klinik und Neurokom gebe es in Tölz inzwischen "ein einmaliges, durchgängiges Angebot in der Neurologie". Angestrebt sei auch eine Zusammenarbeit mit der neuen Fachschule für Heimerziehungspfleger in Wolfratshausen. Am Ende steht Patricia Zewe am Mikrofon. Sie eröffnet die Schau mit Bildern von Rehabilitanden in ihrem Kunstsalon mit Erinnerungen an Josef Beuys. Der Künstler hatte selbst eine Hirnverletzung erlitten. 1944 war er mit dem Flugzeug abgestürzt.

© SZ vom 11.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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