Bad Tölz:Das zweite Leben

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Das Gewehr liegt auf einem Federbock-Aufsatz. Doch Probleme hat Schott eher mit der Konzentration und damit, das Ziel richtig zu erkennen. (Foto: Florian Peljak)

Nach einer Gehirnblutung musste sich Bernd Schott alles neu erarbeiten. Im Neurokom in Bad Tölz lernte der Bautechnikerund Sportschütze wieder schlucken, sprechen, laufen. Nun will er zu den Paralympics

Von Klaus Schieder, Bad Tölz

Am Abend des 23. Januar 2013 änderte sich das Leben von Bernd Schott schlagartig. Nach der Sitzung des Bauausschusses waren alle anderen schon auf dem Nachhauseweg, nur der Bautechniker der Stadtwerke musste noch auf die Toilette im Rathaus von Waldkraiburg. Er stand alleine an den Waschbecken, als er plötzlich zusammenbrach. Auf dem Boden liegend und noch bei Bewusstsein wusste er nicht, was da gerade mit ihm passiert war. Vergeblich versuchte er, wieder aufzustehen. Wenig später entdeckte ihn die Putzfrau, die das Licht im WC gesehen hatte. Das rettete Bernd Schott das Leben, in das er Monate später im Neurokom Isarwinkel in Bad Tölz langsam wieder zurückkehren sollte. In der bundesweit einmaligen Reha-Klinik für Menschen mit Schädel- und Hirn-Verletzungen sei es "dann richtig aufwärts gegangen", erzählt der 50-Jährige.

Mit einer Gehirnblutung war Schott erst in die Klinik Mühldorf gebracht worden, von dort mit dem Rettungswagen ins Münchner Klinikum rechts der Isar - ein Hubschrauber konnte wegen Nebels nicht starten. In München wurde er am Kopf operiert, die Blutung durch ein geplatztes Gefäß schädigte das Stammgangliensystem und das Ventrikelsystem. Um ein Haar wäre der Bautechniker an diesem Abend gestorben. "Es war extrem knapp", sagt er.

Nach der Operation wurde er ins künstliche Koma versetzt. Drei, vier Tage später wachte er auf. Der erste Eindruck, sagt er, "waren lauter Fragezeichen". Er habe nicht mehr gewusst, wo links und rechts sei. Auch seine Frau habe ihm später gesagt, "Du hast lauter Fragezeichen im Gesicht gehabt". In seinem Gedächtnis waren nur noch Fetzen von Früher übrig. Er wusste zwar noch, wer er ist, konnte aber nicht schlucken, nicht essen, nicht sprechen, nicht gehen. "Alles war weg." Seine rechte Seite war gelähmt.

Die Ärzte machten ihm so gut wie keine Hoffnung auf Besserung. Schott ließ sich davon jedoch nicht entmutigen. "Mein erster Gedanke war, es wird nicht gejammert, da musst du durch." Und er hatte ja seine Frau, die felsenfest zu ihm stand. Nach Reha-Aufenthalten in den Schön-Kliniken München und in Bad Heilbrunn kam Schott im Juli 2013 in das Neurokom in Bad Tölz. 1995 hatte Eberhard Bahr diese Einrichtung im Kurviertel gegründet, die er bis vor kurzem auch als Geschäftsführer zusammen mit Silvia Ulze leitete. Wenn er über hirnverletzte Patienten spricht, wiederholt er gerne einen Satz: "Sie sind gestorben, aber nicht tot."

Damit meint er nicht die schweren körperlichen Schäden, wohl aber ihre spezifischen Folgen: Sie zerstören die Persönlichkeit des Betroffenen, seine Identität zersplittert. Was in seiner Vergangenheit war, ist oft nur noch ein Schemen im Hintergrund, er muss erst wieder lernen, aus den Splittern eine eigene Identität zusammenzusetzen. Bahr nennt dies das "zentrale Trauma". Ganz tief im Inneren der Patienten "schwebt und lauert die Angst, aus heiterem Himmel könnte plötzlich wieder etwas kommen, was schrecklich ist", sagt er. Diese Unsicherheit führe zu einem Minderwertigkeitsgefühl. Anders als bei gesunden Menschen, die in ihrem Handeln und Erleben die Welt als ein- und dieselbe wahrnehmen, haben Patienten als "Nicht-mehr-Persönlichkeiten" das Problem, dass sie sich gegenüber ihren Mitmenschen nicht abgrenzen können. "Sie sind wie aufgerissen", sagt Bahr. Situationen und Reaktionen von Mitmenschen erleben sie mitunter als bedrohlich, obwohl sie es nicht sind. Wenn es ihnen gelingt, wieder eine eigene Identität zu bilden, sind sie meist nicht mehr die gleichen Menschen wie früher. Das ist auch ein Grund dafür, warum Bahr zufolge etwa 80 der Betroffenen in der Reha eine andere schlimme Erfahrung machen müssen: Sie verlieren ihren Ehepartner oder andere nahe Bezugspersonen, die mitdieser neuen, fremden Persönlichkeit nichts anfangen können.

Bernd Schott ist in vielerlei Hinsicht ein Ausnahme. Er hatte im großen Unglück auch großes Glück: Seine Frau steht zu ihm, seine Genesung machte mithilfe von Neuropsychologen, Sprach- und Physiotherapeuten rasche Fortschritte. Als er in Tölz ankam, saß er im Rollstuhl, jetzt kann er längere Strecken mit einem Gehstock bewältigen. Die Sprache hat er zurückgewonnen, ohne jede Einschränkung. Und er hat einen Arbeitgeber, wie es ihn heutzutage kaum noch gibt. Die beiden Stadtwerke-Chefs ließen ihn nicht nach einer kurzen Schamfrist fallen, besuchten ihn häufig und erklärten ihm, sein Vertrag bleibe bestehen. "Ich hatte nie das Gefühl, ich bin abgeschrieben", sagt Schott. Vor der Gehirnblutung war er unter anderem als stellvertretender Leiter für ein Geothermie-Projekt und für Brandschutzmaßnahmen am Eisstadion zuständig. Nun arbeitet er vier Stunden pro Tag mit der Behindertenbeauftragten der Stadt Waldkraiburg zusammen, die komplett barrierefrei werden möchte. Zum Beispiel an den Außenanlagen der neuen Schulschwimmhalle. "Mir geht es eigentlich sehr gut", sagt Schott und erzählt nicht ohne Stolz, dass er seinen Kollegen nach der Rückkehr sagen konnte, wo eine CD zu finden sei, die sie verschollen glaubten. Sein Altgedächtnis funktioniere einwandfrei.

Das Neurokom in Bad Tölz verließ Schott im September 2014. Ein Jahr später sitzt der 50-Jährige an einem der vielen Stände in der Olympia-Schießhalle in Garching-Hochbrück. In dem dunklen, lang gestreckten Gebäude ist es an diesem Vormittag eiskalt, obwohl draußen die Sonne auf die 100 Meter entfernten Schützenscheiben fällt. Schüsse knallen in hohem Ton und unregelmäßigem Knattern ans Ohr. Das Kleinkalibergewehr von Bernd Schott liegt wegen seiner Behinderung auf einem Federbock-Aufsatz, den er früher nie gebraucht hat. In dem Leben vor der Gehirnblutung war er ein Großer im deutschen Schützensport. 30 nationale Meistertitel hat er gewonnen, Kleinkaliber und Luftgewehr, einzeln und in der Mannschaft. Er wurde Europameister und zwei Mal deutscher Meister im Armbrustschießen. Kaum verwunderlich, dass er nun bei den Bayerischen Körperbehinderten-Meisterschaften auf seinem Weg von einer Halle zur anderen immer wieder stehen bleiben muss, weil ihn Leute ansprechen, die ihn seit Ewigkeiten kennen. Seinen Ehrgeiz hat Schott nicht verloren: Er will in die Nationalmannschaft für die Paralympics 2020 in Tokio. "Das ist schwerer, als ich mir vorgestellt habe."

Die rechtsseitige Lähmung macht ihm dabei weniger zu schaffen, er schoss schon immer im Linksanschlag. "Gott sei Dank konnte ich zumindest das beibehalten", sagt er. Aber seine Konzentrationsfähigkeit ist brüchig, und er hat noch Probleme, das Ziel richtig zu erkennen. Immerhin hat er heuer einen dritten Platz bei den Bayerischen Meisterschaften für gesunde Sportler belegt, in Garching kommt er diesmal auf einen 7. und einen 17. Rang. Das ist weit besser als im Jahr zuvor, "aber es bedarf noch enormen Trainings", resümiert er. Eberhard Bahr freut sich über die Erfolge. Aber er mahnt auch zur Vorsicht. Nicht zu viel Druck, nicht überdrehen. Es hatte schließlich seinen Grund, dass Bernd Schott am Abend des 23. Januar 2013 zusammenbrach: Hoher Blutdruck und Stress ließen das Blutgefäß im Gehirn platzen. "Gemach, gemach, ich lasse mir Zeit", verspricht der 50-Jährige.

© SZ vom 16.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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