Amtsgericht Wolfratshausen:Angeklagter flieht

Lesezeit: 2 min

Im Prozess um Kindesmissbrauch setzt sich der Täter ab. Er wird dennoch zu einer Haftstrafe verurteilt.

Von Claudia Koestler, Wolfratshausen

Weil es das Amtsgericht Wolfratshausen als erwiesen ansah, dass er sich an seiner Nichte vergangen hatte, wurde ein Angeklagter am Freitag wegen schwerem sexuellem Kindesmissbrauchs zu drei Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe sowie 10 000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. Allerdings bekam der Angeklagte das Urteil nicht persönlich mit - er hatte sich tags zuvor in sein Heimatland Türkei abgesetzt. Sofern er nicht unverzüglich zurückkehrt, wird er per internationalem Haftbefehl gesucht.

"Ich bin stinkwütend", entsetzte sich die Vertreterin der Nebenkläger. Sie hatte bereits im Vorfeld "befürchtet, dass er sich dem Verfahren entziehen und absetzen wird". Das Gericht habe, sagte Richter Urs Wäckerlin, durchaus schon nach dem letzten Verhandlungstag erwogen, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu nehmen, wie von der Nebenklägerin gefordert. Doch das werde immer wieder zum Anlass genommen, das Gericht abzulehnen. Richter Wäckerlin sah deshalb in der gegenwärtigen Situation zwei Möglichkeiten: "Wenn er sich dem Gerichtsurteil entziehen will, schafft er sich damit sein eigenes Gefängnis in der Türkei." Denn sobald er an einer Grenze auftauche, werde er sofort festgenommen, "und dann schmort er", sagte Wäckerlin.

Andere Möglichkeit: Der Verurteilte kehrt sofort nach Deutschland zurück und gibt bis kommenden Dienstag seinen Reisepass am Gericht ab. "Wenn ich am Mittwoch allerdings höre, dass der Pass nicht da ist, wird der Haftbefehl sofort in Vollzug gesetzt", drohte Wäckerlin.

Am Vorabend der Urteilsverkündung, so erklärte der Richter zu Beginn, sei ein Fax eingegangen mit der Mitteilung, dass der Angeklagte in die Türkei gereist ist, um dort seine Mutter zu betreuen. Wann und ob er wieder nach Deutschland reisen werde, dazu machte der Angeklagte im betreffenden Fax jedoch keine Angaben. Allerdings lässt es das Gesetz zu, einen Angeklagten auch in seiner Abwesenheit zu verurteilen, sofern er sich zu einem früheren Zeitpunkt zur Sache geäußert hat - was in den bisherigen fünf Verhandlungstagen geschehen war.

Obwohl der Angeklagte zuvor die Vorwürfe geleugnet hatte und behauptete, das Mädchen habe die Vorfälle erfunden, sah es das Gericht anders. Für Richter Wäckerlin war erwiesen, dass der Angeklagte in fünf Fällen seine Nichte sexuell genötigt und missbraucht habe, in einem Fall lag sogar schwerer Missbrauch vor. Die Taten ereigneten sich im familiären und häuslichen Umfeld, wobei der Angeklagte unter anderem ein Computerspiel zur Ablenkung nutzte.

Die Glaubwürdigkeit des Mädchens einzuschätzen, sei bei diesem Fall von Anfang an von erheblicher Bedeutung gewesen, erklärte Wäckerlin. Doch weder konnte er im Verlauf der Verhandlungen, die sich seit Herbst des vergangenen Jahres zogen, ein Rachemotiv erkennen, noch Suggestion. Das Mädchen habe nicht nur schlüssig in unterschiedlichen Vernehmungssituationen erklärt, was sie gesehen habe. Sie konnte auch schildern, was sie gefühlt habe. Für Wäckerlin ebenfalls ausgeschlossen war, dass das Opfer andernorts gesehene Bilder auf den Angeklagten projiziert haben könnte. Das Kind habe auch Handlungsabbrüche beschrieben, so etwas sehe man nicht in Filmen, sagte der Richter. Ein aussagepsychologisches Gutachten bewertete er obendrein als "verwertbar".

Wäckerlin ging am Ende der Urteilsverkündung davon aus, dass auf Rechtsmittel verzichtet werde. Denn sollte der Fall noch einmal aufgerollt werden, könnten die Taten zusätzlich auch als Körperverletzung geahndet werden. Zumal, wie Wäckerlin sagte, "Opfer von Missbrauch oft sehr lange mit den Folgen zu kämpfen haben und traumatisiert sind".

© SZ vom 20.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: