"Alt und Selbständig":"Ein gutes Miteinander"

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Die Kontaktstelle feiert Jubiläum - und hat seit ihrer Gründung zahlreiche Helfer vermittelt, die Senioren unterstützen, möglichst lange daheim leben zu können. Leiterin Ursula Stiegler spricht über die Anfänge und zukünftige Herausforderungen

Interview von Klaus Schieder, Bad Tölz

Vor 30 Jahren wurde in Bad Tölz die Kontaktstelle "Alt und Selbständig" eingerichtet, die seit 16 Jahren der Caritas angegliedert ist. Das Jubiläum feiert der Förderverein "Alt und Selbständig" an diesem Freitag, 21. Oktober, mit einem Festgottesdienst um 9 Uhr in der Stadtpfarrkirche Maria Himmelfahrt und einem anschließenden Festakt im Pfarrheim Franzmühle. Sozialpädagogin Ursula Stiegler hat die Kontaktstelle aufgebaut. Sie war damals 29 Jahre alt, zuvor hatte sie fünf Jahre mit Heroin-Abhängigen gearbeitet. "Mein Herz schlägt für die Altenarbeit", sagt sie. Über die Anfänge der Kontaktstelle, ihre Erfahrungen mit Senioren und den demografischen Wandel äußerte sie sich im Gespräch mit der SZ.

SZ: Wie möchten Sie leben, wenn Sie selbst einmal alt sind?

Ursula Stiegler: Ich möchte möglichst lange in meiner Wohnung sein können und gute nachbarschaftliche Kontakte haben, genug Freunde und Verwandte, die mir helfen können. Eine Weile habe ich mal überlegt, in eine Senioren-Wohngemeinschaft zu gehen. Ich habe nichts gegen so eine WG, aber ich glaube, dass es mir eher liegt, gewachsene Kontakt weiter zu pflegen. In Kochel, wohin ich nach dem Studium geheiratet habe, will ich auch alt werden.

Der Verein "Alt und Selbständig" gründete sich 1986 mit dem Ziel, alten Menschen zu helfen, möglichst lange in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben. Wie sah die Situation für Senioren damals aus?

Es gab nur ambulante Pflegedienste im Landkreis. Studenten der Stiftungsfachhochschule Benediktbeuern unter Professor Hubert Oppl haben damals eine Bedarfsanalyse gemacht und festgestellt, dass es außerhalb dieser pflegerischen Leistungen nichts für Senioren gibt. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass ergänzende Hilfen nötig sind, um Senioren ganzheitlich zu betreuen. Nicht nur Spritzen und Pillen zu verabreichen, sondern für sie einzukaufen, sie im Haushalt zu unterstützen, zu Ämtern und Ärzten zu begleiten.

Wie waren dann die Anfänge der Kontaktstelle?

Am Anfang hat Stadtpfarrer Rupert Berger mir einen kleinen Raum im Pfarrbüro gegeben. Da standen ein Schreibtisch, ein Telefon und eine kleine Reiseschreibmaschine, sonst war nichts da. Es gab ein paar Studenten, bei denen aber absehbar war, dass sie wieder gehen würden, außerdem Gründungsmitglieder des Vereins und erste Klienten, die Hilfe bekamen, dafür dankbar waren und selbst Mitglieder wurden. Ich kann mich noch erinnern, dass uns Ämter und Leute der ambulanten Seniorenhilfe anfangs skeptisch beäugten. Sie glaubten, das funktioniere eine Weile und werde wieder einschlafen. Aber wir hatten viele jungen Helfer, Studenten, Bekannte und Schüler. Daraus sind langsam die Helferkreise gewachsen.

Ursula Stiegler (rechts im Bild) hat die Kontaktstelle aufgebaut. Ellen Wagner wird in einigen Jahren die Nachfolge von Stiegler übernehmen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Was bietet die Kontaktstelle den Senioren an, damit sie möglichst lange daheim leben können?

Es sind die Helfer, die wir vermitteln. Wir suchen sie erst mal, wir stellen uns vor und sehen, ob jemand geeignet und vertrauenswürdig ist. Dann versuchen wir, ihn seinen Fähigkeiten entsprechend einzusetzen, ihn bei der Stange zu halten und zu begleiten. Das heißt, wir beraten etwa zu Krankheitsbildern - was ist eine Depression - oder klären Konflikte. 20 Jahre lang war ich alleine auf dieser Stelle, immer in Teilzeit, sechs Stunden am Tag, weil ich auch noch zwei Kinder aufgezogen habe. Ohne die Ehrenamtlichen wäre es nicht weitergegangen. Der Verein mit dem Vorstand hat gut dazugeholfen, es ist ein gutes Miteinander. Außerdem hatten ich immer Jahrespraktikanten der Fachhochschule Benediktbeuern. Jürgen Schäffenacker, der heute in der Caritas-Schuldnerberatung arbeitet, war ein Praktikant bei mir. Er hatte die Idee, mit Senioren zum Gardasee zu fahren. Die Reise fand in einem Kleinbus mit sieben Leuten statt, das war der Start der Seniorenfreizeit.

Haben ältere Menschen eine Hemmschwelle, sich von Ihnen helfen zu lassen?

Anfangs sind sie zu mir gekommen und haben gesagt: Ich bin zwar alt, aber noch selbständig. Es ist für jeden schwer zu sagen, dass er ein Defizit hat und Hilfe braucht. Manche waren in der Wohnung gut versorgt, aber vereinsamt. Oder sie hatten wegen des Kontaktmangels Wahnvorstellungen und brauchten psychologische Hilfe. Daraus ist das Seniorencafé entstanden. Wir sagten den Senioren, gehen Sie doch mal hin, wir holen Sie auch ab. Das war das erste Angebot. Das zweite war der gemeinsame Mittagstisch jeden Mittwoch. Das Essen kostet fünf Euro, bis Dienstagmittag kann man sich anmelden.

Eine wichtige Stütze für Pflegebedürftige sind oft die eigenen Angehörigen.

Für sie haben wir ein neues Angebot, das Frühstück für pflegende Angehörige. Einmal im Monat, am Freitagvormittag, können sie sich dazu treffen und auch ihre Patienten mitbringen. Ansonsten sorgen die Helferkreise "Demenzbetreuung" und "Besuchen und Begleiten" dafür, dass die Angehörigen mal weg können und zugleich wissen, dass ihre Patienten gut versorgt sind.

Wenn Sie auf die vergangenen drei Jahrzehnte zurückblicken: Was war die schwierigste Phase für die Kontaktstelle?

Das war einmal, als 1999 das neue Gesetz für geringfügig Beschäftigte in Kraft trat. Dadurch brachen uns viele Helfer weg, wir mussten neu aufbauen. Schwer waren auch die Umzüge. Erst von der Alten Knabenschule in den Schlossplatz 6 neben die Volkshochschule, 2010 dann ins Franziskuszentrum. Immer wenn sich der Stadtteil änderte, änderten sich auch die Besucher. Ins Franziskuszentrum kamen weniger aus der oberen Marktstraße, dafür mehr aus dem Badeteil, weil das Zentrum fußläufig leichter zu erreichen ist.

Wie finanziert sich die Kontaktstelle?

Als uns 2000 die Caritas übernahm, wurde aus dem Trägerverein ein Förderverein. Er bringt Gelder für unsere Arbeit auf, unterstützt uns konzeptionell und kann dabei auch mitgestalten. Außerdem wurden Stiftungsfonds aus Erbschaften von Senioren gegründet, etwa der Liselotte-Padar-Fond. Damit können wir älteren Menschen im Einzelfall helfen, Helferstunden oder die Seniorenfreizeit bezahlen. Die Caritas, die den Sinn unserer Arbeit sah, hat die Betriebsträgerschaft und springt ein, wo Defizite im Ganzen entstehen.

Der demografische Wandel rückt immer näher. Glauben Sie, dass der Landkreis, von seinem seniorenpolitischen Gesamtkonzept abgesehen, darauf ausreichend vorbereitet ist?

Zunächst finde ich das seniorenpolitische Gesamtkonzept eine super Sache. Die Beteiligten haben sich Zeit genommen und Fragen gestellt. Aber in Deutschland wird immer erst reagiert, wenn schon der Notstand eingetreten ist, das sieht man am Pflegenotstand. Daraus werden keine grundlegenden Konsequenzen gezogen. Ein Beweis dafür ist die Bezahlung der Altenpfleger. Der Landkreis hat die politische Entscheidung "ambulant vor stationär" getroffen, aber man sieht noch nicht, inwieweit die ambulante Pflege ausgebaut wird. Wir überlegen gerade, die hauswirtschaftliche Versorgung auszubauen, aber uns gehen regelmäßig die Helfer aus. Dafür muss man Arbeitsstellen schaffen, nicht alles ist mit ehrenamtlichen Helferkreisen abzudecken. In 30 Jahren hat es hier nur eine Halbtags-Sozialpädagogin gegeben, die Verwaltungskraft wurde von vier auf neun Wochenstunden erhöht. Die Stadt München hat schon in den Siebzigerjahren ein Alten- und Servicezentrum in jedem Stadtteil geschaffen, mit je zweieinhalb Sozialarbeiterstellen und einer halben Verwaltungsstelle. Bad Tölz ist bestimmt größer als ein Münchner Stadtteil.

Wer so lange mit Senioren arbeitet wie Sie, hat sicher viel erlebt. Was war eines ihrer schönsten Erlebnisse?

Einmal habe ich eine alte Frau besucht, die einen dementen Eindruck machte und mir nicht geantwortet hat. Ihrem Mann fiel während des Gesprächs ein, dass er noch etwas besorgen muss. Er rannte raus und schloss die Wohnungstür ab. Ich saß mit der Frau im ersten oder zweiten Stock, sie saß in einem Rollstuhl, so einer Art Bettstuhl. Ein Handy hatte ich nicht dabei, eine Telefon sah ich nicht. Ich fragte sie, was machen wir jetzt. Da gab sie mir ein Zeichen, "Moment mal", fuhr mit dem Rollstuhl zur Tür, zog sich hoch, klappte unter sich die Toilettenschüssel auf, holte den Schlüssel heraus und sperrte die Tür auf. Das zeigt, man darf Demenzkranke in ihren Ressourcen nicht unterschätzen. Da kommen manchmal Sachen, die man nicht für möglich halten würde.

Ist es schwer für Sie, wenn ein alter Mensch stirbt, den Sie lange kannten?

Das ist sehr schwer. Manchmal geht es im Berufsalltag ein wenig unter, aber wenn ich abends zu Hause bin . . . das ist schon schwer. Wenn jemand stirbt, stellen wir im Seniorencafé ein Bild auf und zünden eine Kerze an.

© SZ vom 21.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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