Wechsel an der Spitze:Der Wandel muss weitergehen

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Peter Brieger ist neuer Ärztlicher Direktor am Isar-Amper-Klinikum in Haar. Aus der Großklinik soll ein dezentraler Betrieb werden - die Psychiatrie soll zu den Menschen

Von Bernhard Lohr, Haar

Peter Brieger ging es als Student wie vielen. Was seine Dozenten erzählten, war für ihn nur die halbe Wahrheit. Der Zeitgeist forderte in den frühen Achtzigerjahren die Schulmedizin heraus. Gerade auch in der Psychiatrie, deren bedrückende Realität ein Film wie "Einer flog übers Kuckucksnest" im Jahr 1975 auf die Leinwand brachte. Jack Nicholson organisierte darin als Randle Patrick McMurphy den Ausbruch von Patienten aus den Zwängen des Klinikbetriebs. Peter Brieger war Jahre später an der Universität Erlangen-Nürnberg überzeugt: Die Zeit ist reif für eine andere, offenere Psychiatrie. Ansätze dafür, wie diese aussehen könnte, fanden die Studenten damals in dem Buch "Irren ist menschlich". Schon alleine der Titel des Buchs sei eine "Provokation" gewesen, sagt Brieger. "An der Uni durfte man das nicht zeigen."

Diese Zeiten sind vorbei. Vieles von dem, was die Autoren damals von einer Entstigmatisierung und einer neuen Form des Umgangs mit psychisch Kranken schrieben, ist heute Allgemeingut. Die Generation des heute 52 Jahre alten Peter Brieger bestimmt mittlerweile selbst den Lehrbetrieb und die Arbeit in den psychiatrischen Kliniken. Brieger war von 2006 bis vor kurzem Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kempten. Offiziell trat er im November in derselben Funktion seine Stelle am Isar-Amper-Klinikum in Haar an. Es zählt deutschlandweit zu den größten Kliniken dieser Art und ist mit sieben Standorten in und um München für die psychiatrische Versorgung von 2,5 Millionen Menschen zuständig. Ein Großbetrieb, der im Jahr 19 000 Patienten stationär und etwa 8500 Menschen ambulant versorgt. Alles in allem gehören dazu zehn Kliniken und zehn Chefärzte, denen Brieger künftig sagt, wo es langgeht.

Peter Brieger scheint die Aufgabe nicht zu schrecken. Er wirkt am Dienstag tiefenentspannt, als er sich am Besprechungstisch im geräumigen Büro von Klinik-Geschäftsführer Jörg Hemmersbach vorstellt. Mit ihm rückt Hermann Schmid, der bisher Pflegedirektor in Taufkirchen an der Vils war, neu in die Leitung des Isar-Amper-Klinikums auf. Hemmersbach versucht mit den beiden Neuen an der Seite Aufbruchstimmung zu vermitteln. Er habe Mitstreiter gefunden, "die Ansehen genießen und uns weiterbringen". Brieger, Schmid und Hemmersbach sind Brüder im Geiste. Das Fachbuch "Irren ist menschlich" war für sie Leitfaden in der Jugend. Hemmersbach spricht von der "Bibel" für Leute aus seinem Fach, und nicht weniger begeistert erzählt Schmid.

Zunächst einmal ist Brieger von Kempten gekommen, weil die ebenfalls zehn Jahre in Haar wirkende Ärztliche Direktorin Margot Albus aus Altersgründen in den Ruhestand gegangen ist. Schmids Vorgänger Josef Kolbeck zog sich aus gesundheitlichen Gründen zurück. Doch Brieger und Schmid kommen auch in einer Zeit, in der Geschäftsführer Hemmersbach dem Klinikum einen Umbruch verordnet hat, für den er Beistand gut brauchen kann. Aus der Großklinik in Haar soll ein dezentraler Betrieb werden. Die Psychiatrie soll zu den Menschen.

Einiges ist schon geschehen. Das Isar-Amper-Klinikum ist im Münchner Zentrum an der Bavariastraße, in Taufkirchen, Freising und Dachau präsent und baut in Schwabing Versorgungseinheiten mit Tageskliniken und Stationen für Suchtkranke und andere Patienten auf. Gerade wurde in Fürstenfeldbruck eine Tagesklinik eröffnet. Reibungslos verläuft der Umbau nicht. Und jemand wie die frühere Ärztliche Direktorin Margot Albus gab indirekt schon mal zu erkennen, dass sie in Kleinkliniken nur bedingt eine Lösung sieht.

Bei Brieger klingt das anders. Der aus Mittelfranken stammende, habilitierte Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt Forensik ist schon auf Kennenlern-Tour durchs Isar-Amper-Klinikum. Seine Botschaft ist klar: Der Wandel muss weitergehen. "Die alte Anstalt Haar" sei bereits Vergangenheit, sagt er. Das habe er schnell gemerkt. Es herrsche ein offener Ton und es gebe ein Bewusstsein für den richtigen Umgang mit den Patienten. Kommunikation ist für ihn ein Schlüssel zum Erfolg. An diesem Punkt setzten die Autoren des 1978 erschienenen Buchs "Irren ist menschlich" an, als sie einer neue Psychiatrie das Wort redeten. Soeben hat Brieger als Autor und Mitherausgeber dazu beigetragen, das 998 Seiten dicke Standardwerk seiner Jugend zu überarbeiten und dieser Tage neu herauszubringen. Als wissenschaftlicher Autor hat er sich im Bereich der manischen Depression einen Namen gemacht hat - und in einem Gebiet, das für ihn an Bedeutung gewinnen dürfte: Er hat sich mit der "Versorgungsforschung" befasst, also damit, wie es gelingt, medizinischen Fortschritt bei Patienten ankommen zu lassen.

Die Dezentralisierung könnte da ein Schlüssel sein. Brieger erweist sich als Pragmatiker, der es als "Zumutung" bezeichnet, dass Patienten mit psychischen Leiden bei den Verkehrsverhältnissen im Großraum München von Fürstenfeldbruck nach Haar fahren müssen, um behandelt werden zu können. Dafür nimmt der Familienvater mit zwei Töchtern in Kauf, dass er seine Ärzte nicht um sich hat. Das werde mit moderner Videokonferenz-Technik überbrückt, sagt er. Als Indikator dafür, dass er und seine Zunft auf dem richtigen Weg sind, sieht er die sinkende Zahl an Suiziden, die sich deutschlandweit seit den Siebzigerjahren halbiert habe. Die Zahl der Patienten am Isar-Amper-Klinikum freilich steigt, gerade auch im Raum München mit seinem starken Zuzug. Ein Grund dafür ist auch, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen heute der Weg zum Arzt leichter fällt. Sie werden nicht mehr so stark stigmatisiert, und der Arzt ist in der Nähe.

© SZ vom 17.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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