Traditionsladen schließt:Das Herz der Borstei

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Im Schreibladen von Rita Koerver finden die Bewohner der Siedlung nicht nur Stifte, Zeitungen und Briefmarken, sondern auch ein offenes Ohr. Nach 15 Jahren muss sie den Laden aber schließen und sucht einen Nachfolger

Von Anita Naujokat

Die Bewohner der Borstei sind in der glücklichen Lage, sich eigentlich komplett autark mit Dingen des täglichen Lebens versorgen zu können, ohne einen Fuß aus der Siedlung setzen zu müssen. In der Ladenzeile an der Franz-Marc-Straße reiht sich ein Geschäft an das andere: Schuhmacher, Fotoladen, Friseur, Bäckerei, Apotheke. Dazu die Metzgerei, die gerade umgebaut wird und ein Lebensmittel- und Feinkostgeschäft. Und auch bei den schönen Dingen des Lebens wird der Kunde fündig: eine Kneipe, Kosmetik, Antikes, eine Galerie, eine Goldschmiede. Und mittendrin ein Laden, der Nützliches und Verzauberndes verbindet: das Schreibwarengeschäft von Rita Koerver mit Post, Reinigungsannahme, Tabakwaren, Zeitungen und Zeitschriften, Büromaterial, Schulsachen, Spielen und Spielsachen, Taschenbücher, Lotto und vielen netten kleinen Spielereien, die man in den deckenhohen übervollen Regalen, gedrängt auf 53 Quadratmeter, entdecken kann.

Rita Koerver in ihrem Element: Was Kunden nicht in ihrem Geschäft in der Borstei finden, nimmt sie auch gerne als Bestellung auf. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Das Geschäft ist nicht nur für Bewohner der Borstei eine wichtige Anlaufstelle, um sich die tägliche Zeitung zu holen oder einen Brief aufzugeben. Auch die Mitarbeiter der Stadtwerke München und des IT@M, des zentralen Dienstleisters der Landeshauptstadt München, schauen gerne vorbei, um ohne lange Warteschlangen etwas zu erledigen. Obwohl an diesem Vormittag draußen nicht viel los ist, betreten fast ununterbrochen Kunden das Geschäft. Doch damit könnte bald Schluss sein. Findet sich kein Nachfolger, könnte es bald aus sein mit Briefmarken, Paketen, Postbank und Schreibwaren in der Borstei.

Das Sortiment umfasst natürlich auch Stifte in allen Farben. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Denn die 64-Jährige schließt nach mehr als 15 Jahren Ende September ihr Geschäft, aus gesundheitlichen Gründen, wie sie sagt. Ein Bandscheibenproblem mache ihr zu schaffen; die Schmerzen strahlten bis in die Beine, sodass sie nicht mehr gut stehen könne, sagt sie. Zwar hätten sich auf die Anzeigen in der Tagespresse Interessenten gemeldet, doch etwas Ernsthaftes sei noch nicht darunter gewesen. Noch während des Gesprächs sagt ihr einer der Bewerber am Telefon ab. Ihm sei der Weg vom Münchner Süden, wo er lebe, in die Borstei dann doch zu weit, berichtet Rita Koerver.

Das Geschäft ist eine wichtige Anlaufstelle, um sich die tägliche Zeitung zu holen oder einen Brief aufzugeben. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Über eine solche Anzeige in der Zeitung war Rita Koerver, die aus dem Ruhrgebiet stammt, ebenfalls auf das Geschäft in der Borstei aufmerksam geworden, in dem schon vorher Schreibwaren angeboten wurden. 35 Jahre war sie als Angestellte im kaufmännischen Bereich tätig und wollte, kurz bevor sie 50 wurde, noch einmal etwas ganz Neues beginnen. "Reinspringen und learning by doing", war ihre Devise. Mittlerweile ist ihr das Geschäft, zu dem auch Rauhaardackeldame Meggy gehört, sehr ans Herz gewachsen. "Ich fühle mich hier mehr zu Hause als in meiner Wohnung", sagt sie.

Auch das ein oder andere ausgefallene Geschenk findet sich in dem Laden. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Seit mehr als 14 Jahren lebt sie selbst in der Borstei. Sie betreibt den Laden allein, ihr Mann ist mittlerweile 81 Jahre alt. Wenn es eng wird, helfen ihr manchmal Freundinnen. Die eigenen Kinder können nicht übernehmen. Sie leben in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, haben inzwischen eigene Kinder, sind beruflich an ihre jetzigen Wohnorte gebunden.

Bei Rita Koerver findet sich noch richtige Tafel-Kreide, Patronen für Füller, Seifenblasen, Pixi-Büchlein von "Der schlaflose Papagei" über "Ballfieber" bis hin zum "Dino-Konzert". "Für Kiddies habe ich eigentlich alles", sagt Rita Koerver, die fast nur Stammkundschaft hat. Bis hin zum kompletten Schulangebot mit Sonderheften und -farben. Laufkundschaft komme hauptsächlich wegen der Post herein, weil sie bei ihr nicht so lange anstehen müsse. "Es ist sehr schade, dass sie schließt", sagt Laura Joppien, Mutter zweier Kinder. "Wir sind sehr oft hier. Reinigung, Schreibwaren, kleine Geschenke. Und die Kinder bekommen von ihr immer Gummibärchen."

Findet sich kein Nachfolger, könnte es bald aus sein mit Briefmarken, Paketen, Postbank und Schreibwaren in der Borstei. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Für Leonore Messerschmid wäre es eine richtige Einschränkung, sollte es hier keine Post mehr geben und keine Möglichkeit, mal schnell eine Fotokopie anzufertigen. "Schade. Sie ist uns lieb geworden", sagt Roswitha Döring, auch im Namen von Georg Höcherl. "Aber ich verstehe es. Wir geben auch unseren Garten in der Anlage an der Sadelerstraße auf, weil wir nicht mehr können."

Für ihre Kunden ist Rita Koerver nicht nur eine kundige Geschäftsfrau, sondern auch Beichtmutter und Ratgeberin. Ob es um die Thrombosen im Arm einer Kundin geht oder um die Alltagsgeschichten der Kinder. Humor und Haltung zeigt sie anhand vieler kleiner Details, etwa mit der unter der gläsernen Verkaufstheke klebenden Aufschrift "Bei Stau Rettungsgasse bilden". Ernsthafte Mahnung an Autofahrer und zugleich witzige Anspielung auf einen Ausweg bei Gedränge im Laden.

Fragen wirft dagegen das handgeschriebene "Keine Handy-Aufnahmen" auf. Warum dieses Verbot? Das hat Rita Koerver wegen "gewisser Kunden" angebracht, die sich lang und breit edle Füllfederhalter zeigen und erklären ließen, sie abfotografierten und dann abzogen, um sie übers Internet zu kaufen.

Noch einmal können Mütter die Listen für den Bedarf des kommenden Schuljahres bei ihr abgeben. Rita Koerver stellt die Sachen dann abholbereit für den nächsten Tag zusammen. Sie nimmt auch die Privatanzeigen der Mieter aus der Borstei für den Schaukasten am Ende der Ladenzeile entgegen. Sollte sich kein geeigneter Nachfolger finden, wird die Borstei-Verwaltung die Räume wohl als leeres Ladenlokal vermieten müssen, vermutet Rita Koerver. Mit noch ungewissem Warenangebot.

© SZ vom 30.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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