Thema des Tages:Das fängt ja gut an!

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Die Hinweise auf drohende Anschläge bescheren der Stadt einen Jahreswechsel, wie es ihn so noch nicht gab: Schwer bewaffnete Einsatzkräfte sichern die betroffenen Bahnhöfe, während die Münchner und ihre Gäste ausgelassen feiern. Die einen, weil sie sich nicht einschüchtern lassen, die anderen, weil sie nichts mitbekommen

Zwölf Stunden ist das neue Jahr nun alt, am Marienplatz stehen am Mittag mehr als tausend Menschen, fast alle starren gebannt nach oben, einige stehen mit glasigem Blick und Bierflasche in der Hand am Abgang zur U-Bahn. Minuten später beginnen sich am Rathausturm die Figuren im Kreis zu drehen. Als das Glockenspiel "O Tannenbaum" erklingen lässt, applaudiert die Menge. Es ist, als ob es eine Terrorwarnung in der Nacht nicht gegeben hätte. Ein Mannschaftswagen der Polizei schiebt sich in Schritttempo durch die Menge. Die Beamten haben zuvor den Platz genau beobachtet, auf der Suche nach verdächtigen Personen. Sie rücken ab, hier können sie derzeit nichts tun.

Nicht einmal eine Stunde später verschickt der Katastrophen-Warndienst Katwarn folgende Meldung: "Landeshauptstadt München meldet: Warnung für PLZ 80336, Terrorwarnung, gültig ab sofort, Radio und Fernsehen einschalten." Eine Schrecksekunde für manche Empfänger, die das in ihren Smartphones aufblitzen sehen - schon wieder Alarm? Nein, die Meldung ist vom Vorabend. Anscheinend spielt bei Katwarn die Technik verrückt.

Nicht nur die Technik setzt bei manchen aus. Der Pegida-Vorsitzende Lutz Bachmann twittert in die Silvesternacht: "Alle #WelcomeKlatscher haben sich umgehend am Hauptbahnhof München einzufinden! #RefugISISnotWelcome." Es hagelt empörte Reaktionen, von denen sich Bachmann aber nicht beeindrucken lässt.

Ansonsten ist aber doch alles recht besonnen geblieben in dieser langen Silvesternacht. Auch am Hauptbahnhof, ihrem zentralen Schauplatz. Der bietet um Mitternacht ein gespenstisches Bild. Überall an den Eingängen flattern rot-weiße Absperrbänder, niemand kommt hier durch. Mit Maschinengewehren bewaffnete Polizisten patrouillieren davor. Bei aller Unklarheit und Unsicherheit um kurz nach Mitternacht bleiben die Einsatzkräfte sehr ruhig und professionell. Sie verbreiten keine Hektik. Fragen werden allerdings keine beantwortet. Wie auch? Es weiß zu diesem Zeitpunkt ja wohl niemand genau, was geplant ist, ob die Bedrohungslage akut war oder auch noch ist.

Absperrungen, Waffen, gespenstische Ruhe: Die eine Seite des Jahreswechsels, an einem U-Bahn-Zugang beim Hauptbahnhof. (Foto: Johannes Simon)

Gespenstische Szenen auch am Pasinger Bahnhof. Die S-Bahn Richtung Tutzing spuckt eine Gruppe Operngeher aus, die aus der "Fledermaus" kommen und nun zum Silvester-Menu nach Hause eilen, auch Jugendliche und Familien steigen die Treppen zum zentralen Fußgänger-Tunnel hinab. Eine gelöste Stimmung, die unten sofort umschlägt: Ein Dutzend Männer in Kampfmontur mit Maschinengewehren im Anschlag kommt den Tunnel entlang. Die Gespräche der Passanten verstummen, die Gesichter der Bewaffneten sind ernst und angespannt, das Szenario bizarr, niemandem ist zum Scherzen zumute.

Am Neujahrsmorgen aber dann, gegen acht Uhr, steht nur noch ein Kastenwagen der Polizei vor der Tür. Wenige Menschen sind unterwegs, hinter dem Tresen der Bäckerei Rischarts stehen drei Verkäuferinnen und bedienen die wenigen Kunden. Man tauscht Neujahrswünsche aus, das Wort "Wahnsinn" fällt, aufmunternde Blicke. Ein Mann mit zwei großen Plastiktüten trinkt seinen Kaffee aus und schlurft davon. Im Fußgängertunnel patrouillieren zwei Polizisten, ein Nachtschwärmer-Pärchen eilt zum Zug.

"Ich weiß von nix", sagt die Security auf dem Tollwood. Es geht "ganz normal weiter"

Den Pasinger und den Hauptbahnhof solle man bitte meiden - das war die erste Warnung der Polizei. Und "Menschenansammlungen". Münchens mutmaßlich größte ist in dieser Nacht auf der Theresienwiese zu beobachten: 10 000 sollen es sein, die bei Tollwood feiern. Die Security-Kräfte berichten um Mitternacht, von der Polizei keine spezielle Gefahrenmeldung erhalten zu haben. Deshalb mache man jetzt "ganz normal weiter", sagt einer. "Ich weiß von nix", sagt ein anderer. "Wer soll hier auch reinkommen? Es wird doch jeder kontrolliert." Die Feier bleibt groß, laut und friedlich.

Wie überhaupt die Polizei, vom Terroralarm abgesehen, eine ganz normale Nacht meldet: mehr als 200 "silvestertypische Einsätze", vor allem Schlägereien und Streitereien. Und 44 Einsätze "im Zusammenhang mit pyrotechnischen Gegenständen". Liegt nahe an Silvester.

"Haste mal einen Böller"?, fragt ein Mann, geht von Gruppe zu Gruppe auf der Wittelsbacherbrücke. Der einsame, junge Kerl wirkt schon ziemlich betrunken. Der Kiosk an der Reichenbachbrücke verkauft in dieser Nacht durchgängig Alkohol, sonst gibt es das dort nicht. Im Nebel aber macht das Brückenstehen und Böllern doch nicht so richtig Spaß, weshalb man in der U-Bahn schon kurz nach ein Uhr nachts noch junge Menschen mit Rucksäcken sehen kann, aus denen Bündel langer Holzstäbe ragen, die Insignien des Feuerzaubers, ungenutzt.

Eine der zentralen Erkenntnisse: Es checkt eben doch nicht jeder ständig sein Smartphone

Fürs mitternächtliche Feuerwerk unterbricht sogar die Freundesrunde in Laim ihr Malefiz-Spiel. Das zieht sich über Stunden. Der Fernseher ist aus, das Radio und der Computer ebenfalls, den ganzen Abend lang wischt auch niemand am Tisch auf seinem Smartphone herum, niemand twittert oder simst. Würfeln, Vorrücken, Rausschmeißen - die einzige Aufregung an diesem geruhsamen Silvesterabend. Ohne Ahnung von dem, was nicht weit entfernt vor sich geht, geht die Runde schließlich zu Bett und kommt erst am Vormittag in der Nachrichten-Welt an.

Wie man auch in Schwabing das Gefühl gewinnt: Es checkt doch nicht jeder ständig sein Smartphone. Anders ist nicht zu erklären, was hier um Mitternacht und kurz danach los ist. Es wird geböllert und Feuerwerk in die Luft gejagt, Atem holen zu wollen, ist keine gute Idee mehr. Oder mit dem Fahrrad vorwärtskommen zu wollen, in diesem Dunst aus Nebel und Feinstaub, im Sektflaschen-Slalom. Keine zehn Minuten von den Maschinengewehr-Polizisten vom Hauptbahnhof entfernt.

Freude, Hoffnung, fröhliches Feuerwerk: Die andere Seite der Münchner Silvesternacht auf der Reichenbachbrücke. (Foto: Stephan Rumpf)

Andere haben sehr genau mitbekommen, was passiert ist. Eine Wirtin an der Balanstraße warnt jeden, der um kurz vor Mitternacht das kleine Lokal betritt, dass Terroristen in der Stadt seien. "Weiß jemand, wo?", fragt eine Dame in Rot. Smartphones werden gezückt, jeder sucht nach Antworten. Und findet keine.

Oder Dario Gambarin, ein Italiener, der zum Feiern nach München gekommen und nun an der Isar gelandet ist: Noch bevor eine Polizei-Kolonne, mit Blaulicht, Sirene, Mannschaftswagen an ihm vorbeirast, hat er einen Anruf aus Rom bekommen. Besorgte Frage: Ist bei dir alles in Ordnung? Da explodiert bereits die Wittelsbacherbrücke, im Raketenregen. Im Isar-Bett brennen rote bengalische Feuer. Ein Kanonenschlag explodiert. Der Kracher ist so laut, dass ein Mensch mit empfindlichen Nerven oder Kriegserfahrung jetzt tatsächlich an eine Bombe denken könnte. Gambarin, der Italiener, hat da schon Schutz an einer Hausmauer gesucht. Nebel legt sich über den Fluss, der Dunst zieht so schnell auf und wird rasch so dicht, dass es ein bisschen gespenstisch wird. Im Fall einer Panik könnte man sich glatt verirren.

Im Marienplatz-Untergeschoss ist weit nach Mitternacht noch Partystimmung. Viele der neuen Café-Bars sind geöffnet. Auch eine Gruppe von Afghanen ist da, sie feiern ihr erstes Neujahr in Deutschland. Die jungen Männer stehen dicht zusammen, wirken ein wenig scheu, tragen dünne Stoffjacken, es ist ja nicht kalt in dieser Nacht. Sie haben ihre Kopfhörer im Ohr. Wissen Sie, dass München sich gerade vor dem Terror fürchtet? Am Hauptbahnhof, dem Symbolort der deutschen Willkommenskultur? Die jungen Männer sprechen nur ihre eigene Sprache.

Und die Ansagen im U-Bahnhof gibt es nur auf Deutsch. Alle paar Minuten: Der Hauptbahnhof wegen eines Polizeieinsatzes gesperrt. Züge halten dort nicht. Aber U-und S-Bahnen fahren. Das Gedränge auf dem Bahnsteig ist groß: Kommt ein Zug, will jeder sofort rein. Keiner mag laufen, keiner hat Angst, und wenn, dann zeigt er es nicht. Dass die Bahnen weiter fahren, dürfte mit am meisten zur ruhigen Stimmung in München beitragen.

Und am Freitag stehen mittags Sean Madden und Laura Cochran vor der in Nebel gehüllten Feldherrnhalle und schießen ein Selfie. Die Touristen aus New York haben erst nach Mitternacht von der Bedrohung erfahren. "Unser Hotel ist ganz nah am Hauptbahnhof. Als wir vom Feiern aus einer Bar zurückkamen, war dort eine massive Polizeipräsenz, und wir wurden gebeten, in eine andere Richtung zu gehen", sagt Sean. Von ihrer Stadtbesichtigung tags drauf hat sie das nicht abgehalten. "In New York ist man an solche Bedrohungslagen gewohnt", sagt Laura. Am Hauptbahnhof, dem angeblichen Terrorziel, geschäftiges Treiben. Doch der erste Blick trügt. "Für einen Feiertag ist es hier fast leer", sagt der Mitarbeiter eines Gastronomieunternehmens. Kaum noch Polizisten sind hier zu sehen. Nur draußen vor der Bundespolizeiinspektion steht eine Gruppe Uniformierter. Einer trägt eine Maschinenpistole - nicht in Kämpfermanier, sondern eher wie man eine Bohrmaschine trägt

© SZ vom 02.01.2016 / anl, bov, csc, cmy, czg, son, tbs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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